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Wählen im Schatten

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Zum drittenmal in der Zweiten Republik werden in diesem Herbst in Oesterreich Arbeiterkammerwahlen durchgeführt. Auf Grund der Erfahrungen früherer Wahlen ist die Tatsache festzustellen, daß die Wahlbeteiligung eine bisher verhältnismäßig schwache war , anscheinend auch deshalb, weil von den Kammerangehörigen die Bedeutung der Einrichtungen der Arbeiterkammer zuwenig gewürdigt wurden.

Die Errichtung von Arbeiterkammern geht auf einen langgehegten Wunsch der Arbeiter und Angestellten zurück, die bereits nach 1848, als die Handelskammern errichtet wurden, eine gleiche Einrichtung für sich in Anspruch nahmen. Dieser Wünsch ging aber erst nach Beendigung des ersten Weltkrieges in Erfüllung, als 1920 durch das damals vom Nationalrat beschlossene Arbeiterkammergesetz erstmalig in ’ Oesterreich Arbeiterkammern errichtet wurden. Die Arbeiterkammern sind Einrichtungen öffentlichen Rechts und hab(?n die Aufgabe, vor allem auf sozialem und wirtschaftspolitischem Gebiet, aber auch im kulturellen Bereich, die Interessen der unselbständig Tätigen, soweit sie nach dem Gesetz in den Wirkungsbereich der Arbeiterkammern fallen, zu vertreten. Die Arbeiterkammern wurden mit Recht als das „Arbeiterparlament“ bezeichnet, da ihre Funktionäre für dieses Parlament, das ist die Vollversammlung, durch direkte Wahl gewählt werden. In der Zeit der Ersten Republik bestanden Richtungsgewerk- . schäften, deren bedeutendste die freien (sozia- . listischen) und die christlichen Gewerkschaften waren. Die Arbeiterkammern konnten für diese Zeit das Recht in Anspruch nehmen, als die Gesamtvertretung der Arbeitnehmerschaft angesehen zu werden, da alle politischen Fraktionen durch ihre Mandatare vertreten waren. Dort bildete sich nach dem politischen Kräfteverhältnis die politische Willensbildung im Interessenbereich. Es gab also damals keine grundsätzliche Problematik im Verhältnis der bestehenden Richtungsgewerkschaften und den Arbeitericammern. Für diese'Zeit ist noch bemerkenswert, daß das föderalistische Prinzip stärker zum Ausdruck kam, als dies heute der Fall ist, da der Arbeiterkammertag lediglich eine losere Vertretung der Gesamtinteressen innerhalb der Arbeiterkammern darstellte, als dies heute der Fall ist. Die Arbeiterkammern bestanden auch nach Auflösung der Richtungsgewerkschaften weiter als Geschäftsstellen des 1934 errichteten Gewerkschaftsbundes der österreichischen Arbeiter und Angestellten, der zwar eine Einrichtung öffentlichen Rechtes war, dem man aber freiwillig beitreten konnte. 1938 wurden die Arbeiterkammern durch das nationalsozialistische Regime aufgelöst, und es war eine der ersten Maßnahmen der provisorischen Staatsregierung 1945, die Arbeiterkammern wieder zu errichten, wobei sich das Gesetz von 1945 noch sehr stark an das alte Arbeiterkammergesetz 1920 anlehnte.

Seit 1945 gibt es eine echte Problematik im Verhältnis der Arbeiterkammern zu den bestehenden Gewerkschaften bzw. dem mächtigen OeGB, der als überparteiliche und überkonfessionelle Einheitsgewerkschaft gegründet wurde. Während also in der Ersten Republik die Daseinsberechtigung der Arbeiterkammern neben den bestehenden Richtungsgewerkschaften niemals ernstlich angezweifelt wurde„ wird nach 1945, besonders auf Arbeitnehmerseite, immer wieder die Frage aufgeworfen, welchen Sinn und Zweck noch die Arbeiterkammern neben den der bestehenden Einheitsgewerkschaft haben. Kommen Ausländer nach Oesterreich, um hier die sozialen Einrichtungen zu studieren, dann fällt es oft sehr schwer, ihnen das Nebenein- andęrbestehen einer. Einheitsgewerkschaft und den Arbeiterkammern zu erklären. Zweifellos fällt zumindest ein Teil der Aufgabenbereiche beider Institutionen zusammen; graphisch dargestellt, handelt es sich um zwei sich zwar nicht deckende, aber doch überschneidende Kreise. Es können zum Beispiel die Arbeiterkammern nach dem Gesetz als gesetzliche Interessenvertretung Kollektivverträge abschließen. Das gleiche Recht steht’auch den freien Berufsvereinigungen zu, welchen die Kollektivvertragsfreiheit aber erst zuerkannt werden muß. Es hat der OeGB diese Kollektivvertragsfreiheit auch erhalten. Es wäre nun theoretisch möglich, daß beide Institutionen Kollektivverträge abschließen. Die Arbeiterkammern bzw. der Arbeiterkammer tag machen von diesem Recht keinen Gebrauch, sondern überlassen den Abschluß von Kollektivverträgen der freien Berufsvereinigung. Dagegen besitzt der Verband der österreichischen Industriellen die Kollektivvertragsfähigkeit, von welcher er aber wiederum zugunsten der gesetzlichen Interessenvertretung der Kammern der gewerblichen Wirtschaft keinen Gebrauch macht. Bei den Landarbeiterkammern liegt rechtlich die gleiche Situation vor, jedoch schließen de facto die Gewerkschaft der Land- und Forstarbeiter namens des OeGB und die Landarbeiterkammern Kollektivverträge ab. Auf die rechtlichen Schwierigkeiten, die sich ergeben, soll hier nicht weiter eingegangen werden.

Die Zugehörigkeit zu den Arbeiterkammern wie zu den Kammern überhaupt ist unabhängig vom Willen des Zugehörigen, da die Zugehörigkeit durch Gesetz nach objektiven Merkmalen bestimmt wird. Die Kammerumlage ist daher auch kein Mitgliedsbeitrag im Sinne eines Beitrages zu einer Vereinigung, sondern eine Um-

läge, die das Gesetz festlegt und der sich der Kammerangehörige nicht entziehen kann.

Die Aufgaben der Arbeiterkammern, die ebenfalls durch das Gesetz aufgezählt werden, erstrecken sich ausschließlich auf den fachlichen Bereich. Während die freien Berufsvereinigungen, also die Gewerkschaften, im Kampf um die ' Interessen der unselbständig Tätigen an vorderster Front stehen, ist es die Aufgabe der Ar- beiterkammern, ihnen jenes fachliche Rüstzeug bereitzustellen, das sie in diesem Kampf brauchen. Es sind also die Aufgabenbereiche, dort wo sie sich überschneiden, zwischen - den beiden Einrichtungen zu teilen, wobei sich in der Praxis trotzdem noch manche Schwierigkeiten ergeben. Faktisch sind die Arbeiterkammern heute Hilfseinrichtungen der Gewerkschaften geworden, deren sie sich in reichlichem Maße bedienen. Es mag dahingestellt bleiben, ob dies richtig ist oder nicht. Es können daher die Arbeiterkammern nichts unternehmen, was den Zielen der Gewerkschaften widersprechen würde. Es wäre dies auch gar nicht möglich, da wiederum faktisch die Arbeiterkämrriern von den Gewerkschaften insoweit abhängig sind, als ihre

Funktionäre, sei es im Verstand oder in der Vollversammlung, fast identisch sind mit den Funktionären der Gewerkschaften. Es besteht demnach eine Personalunion zwischen der Führung der Arbeiterkammern und der der Gewerkschaften. Dazu kommt noch, daß besonders durch das Arbeiterkammergesetz von 1954 das föderalistische Prinzip durch die Verstärkung der Position des Arbeiterkammertages zurückgedrängt wurde.

Die Arbeiterkammern sind heute fast ausschließlich eine Domäne der sozialistischen Fraktion, um nur auf das Beispiel der Arbeiterkammer Wien zu verweisen, in welcher von den 180 zu wählenden Mitgliedern der Vollversammlung nur 28 der Fraktion des OeAAB und 21 der Fraktion der gewerkschaftlichen Einheit (Kommunisten) angehören. Dazu haben die Parteilosen 5 Mandate besetzt. Die gleichen Verhältnisse in der Zusammensetzung finden wir in allen übrigen Kammern vor. Das gleiche gilt von den Präsidenten, die sämtliche der sozialistischen

Fraktion angehören; ebenso sind alle Stellen der Kammeramtsdirektoreri von Sozialisten besetzt. Auch das Personal des Kammerapparates weist eine ausschließlich sozialistische Zusammensetzung auf. wobei dieses Verhältnis in keiner Weise der politischen Zusammensetzung des Funktionärapparates entspricht. So gehören von den rund 200 Angestellten der Wiener Arbeiterkammer lediglich nur sechs offiziell der OeAAB- Fraktion an; die überdies in sämtlichen Kammern Oesterreichs nur zwei leitende Dienststellen aufweisen kann. Diese nur angedeuteten Beispiele mögen bereits erkennen lassen, daß in den 'Arbeiterkammern von einem Parteiproporz keine fCede ist.

Trotz' der aufgezeigten Schwierigkeiten leisten die Arbeiterkammern bedeutende fachliche Arbeit. Die wichtigste Aufgabe mag hierin gelegen sein, daß sie berechtigt sind, zu allen, die Interessen der Dienstnehmer berührenden Entwürfen von Gesetzen und Verordnungen bereits in einem Stadium der Entwicklung Stellung zu nehmen, in dem es möglich ist, den Entwicklungsgang im Ressort selbst noch von der fachlichen Seite her zu beeinflussen. Ihre Hauptauf gäbe liegt im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, in welchem sie auch als autonome Körperschaft selbständig tätig, werden kann. Da dies heute nur noch sporadisch und nicht in jenem Ausmaß geschieht, als es geschehen sollte, mag unter anderem, aber nicht ausschließlich, an den bereits erwähnten Schwierigkeiten liegen. Ein weiteres Arbeitsgebiet liegt .in der Beobachtung der Auswirkungen vor allem der sozial- und wirtschaftspolitischen Gesetze. Einen großen Umfang, besonders was den Apparat anlangt, nimmt der wirtschaftliche Bereich ein. Ueber die Begutachtung von Gesetzentwürfen hinaus nehmen die Vertreter des Arbeiterkammertages an internationalen Handelsverhandlungen, an der Preisbildung, an statistischen Einrichtungen, also an allen Institutionen teil, die zur beruflichen Selbstverwaltung gehören. Auf diese Weise mag bereits ein großer Teil des Mitbestimmungsrechtes der Arbeitnehmerschaft auf überbetrieblicher Ebene verwirklicht sein.

Neben der Erfüllung dieser Aufgaben hat die Kammer eine Reihe hervorragender Bildungseinrichtungen entwickelt, wie die bereits seit zehn Jahren bestehende Sozialakademie, eine fachliche Abendschule,-. Fachkurse verschiedensten--Art, Unterstützungseinrichtungen für Lehrlinge,. Mif- fel-- und Hochschüler, Urlaubsäktionen, Lehrlingsheime, Schulungs- und Erholungsheime usw. Im besonderen 'wirkt sich die Subventionstätigkeit der Arbeiterkammern aus. Die namhaften Budgetmittel, die den Arbeiterkammerh besonders in der Zeit einer Vollbeschäftigung durch die Kammerumlage zur Verfügung stehen, werden nicht nur für die Aufrechterhaltung des Büroapparates, zum Bau von Lehrlings- und Erholungsheimen verwendet, sondern auch zu namhaften Subventionen an Organisationen. Auch in der Verteilung dieser Subventionen drückt sich das politische Kräfteverhältnis aus, denn im Verhältnis der Stärke der Fraktionen werden auch die Subventionen an die den Fraktionen nahestehenden Vereinigungen zugeteilt, wie etwa an Sportverbände, Kulturvereinigungen, Kinderfreunde usw. Außerdem unterstützt die Arbeiterkammer noch in sehr ausgiebiger Weise die Bildungseinrichtungen des Oesterreichischen Gewerkschaftsbundes.

Vom Ausgang der Wahlen 1959 wird es abhängen, ob es bei dem derzeitigen Kräfteverhältnis innerhalb der Kammer verbleibt, das heißt, ob die sozialistische Fraktion die Mehrheit in einer Stärke behält, daß sie ohne Rücksicht auf Minderheiten führend sein kann. Bleibt es bei dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis, bedeutet dies, daß auch weiterhin die Arbeiterkammern eindeutig sozialistisch geführt werden. Gelingt es aber, die Fraktion des Arbeiter- und Angestelltenbundes so zu stärken, daß sie zwar eine Minderheit, aber eine sehr starke Minderheit darstellt, dann wird sich auch die Politik, der Arbeiterkammern ändern können. Vor allem wird es möglich sein, daß auch christliches Gedankengut in die Arbeiterkammern einzieht, das bisher von der sozialistischen Mehrheit bewußt vernachlässigt wurde; ob es sich um die Familienpolitik, die Probleme einer neuen Betriebsgestaltung, die Fragen der beruflichen Selbstverwaltung, kurz um jenen Fragenkomplex handelt, der so sehr der christlichen Arbeiterschaft am Herzen liegt.

Es wäre eine Utopie, zu glauben, daß es ‘der christlichen Arbeiterschaft gelingen könnte, mit einem Schlag die absolute Mehrheit in diesem Bereich zu brechen, aber bei einiger Anstrengung müßte es gelingen, gerade die christlichen Arbeiter und Angestellten an der Einrichtung der Arbeiterkammer zu interessieren, sie von Betrieb zu Betrieb, von Haus zu Haus, von Mann zu Mann zu erfassen und zur Wahlurne zu bringen. Denn gerade in den Klein- und Mittelbetrieben, die bisher Sehr mangelhaft erfaßt wurden, stehen aller Voraussetzung nach diese Gruppen. Würde es gelingen, sie möglichst vollständig zur Wahlurne zu bringen, wäre auch eine Verstärkung der Fraktion durchaus im Bereich der Möglichkeit gelegen. Die Abgeordneten des Oesterrei- chischen Arbeiter- und Angestelltenbundes im Nationalrat haben bereits vor mehr als einem Jahr versucht, durch eine Aenderung des Ar beiterkammergesetzes auch eine Aenderung des Wahlsystems herbeizuführen, welche Bemühungen jedoch an der Ablehnung der sozialistischen Fraktion gescheitert sind.

So-wird also auch bei dieser Wahl nach dem alten System gewählt, das heißt, daß die Arbeiterkammern selbst durch die Aufstellung von Wählerlisten die Wähler erfassen. Diese Erfassung muß schon deshalb eine sehr mangelhafte sein, weil die Arbeiterkammern selbst nicht über den notwendigen Wahlapparat verfügen, sondern diesen immer erst ad hoc schaffen müs-

sen. Der. Vorschlag der OeAAB-Abgeordneten ging dahin, die Erfassung der Wahlberechtigten durch die Gemeinden des Betriebsortes durchzuführen. Da dieser Vorschlag, nicht durchgedrungen ist, ist es Angelegenheit der christlichen Arbeitnehmerschaft, selbst dafür zu sorgen, möglichst viele, ja möglichst alle ihrer Gesinnungsfreunde zur Beteiligung an der Wahl zu veranlassen. Die Arbeiterkammern werden nur so lange eine Domäne der Sozialisten sein, solange die christliche Arbeiterschaft an dieser Einrichtung uninteressiert bleibt.

Sittengesetzes erinnern, ihm nur das entnehmen, was ihnen im Augenblick dienlich scheint, werden sie eben in ihrem Bestand davon abhängen, was sie an wirtschaftlichen Vorteilen für ihre Wähler wie für die sogenannte Oeffentlichkeit erreichen. Wie in den USA wird jedenfalls die „gläubige Jugend“ die Politik mehr denn je als einen Alterssport betrachten. Sollte man nicht das auffällig starke Fehlen der Jungwähler bei dieser Wahl beachten? Oder die minimale Begeisterung, mit der die anderen jungen Menschen diesmal ihre Wahlpflicht erfüllten, gar nicht z sprechen von ihrer schwachen Teilnahme an den Wahlversammlungen?

Immer weniger gläubige Katholiken und Nationale glauben heute, in den Parteien die Mög- glichkeit einer weithin ijiteressefreien Betätigung zu finden. Und mit Recht, wenn auch freilich durch eine Absenz der Gläubigen die weltanschauliche Entleerung des politischen Handelns verstärkt und nicht aufgehalten wird. Die Parole des „Ohne uns“ wirkt schließlich stets auf jene zurück, die sie in die Welt setzen.

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