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Das neue Deutschland

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GESELLSCHAFT UND DEMOKRATIE IN DEUTSCHLAND. Von Rolf Dohrendorf. Vor- lof Plpor Co., MUnehon, (Ob., SU SOIton, Leinen DM IS.—,

In der kühlen Distanz, die wir vom Autor gewohnt sind, wird von ihm die Gesellschaft (vor allem) der deutschen Bundesrepublik, soweit sie mit der Demokratie konfrontiert wird, untersucht. Zu diesem Zweck ordnet D. die Geschichte der Deutschen und ihre sozialen Strukturen dem zentralen Thema der liberalen Demokratie unter; sie — als Modell — dient der Klassifikation der deutschen Gesellschaft und 1st Ausweis ihrer Bewährung oder ihres Versagens.

Im Rahmen einer Analyse der „deutschen Frage”, die mehr 1st als das Problem eines dreigeteilten Landes (Seite 18), versucht D. zu erklären, warum sich in Deutschland die demokratische Ordnung nie recht entwickeln konnte und kann (Seite 27) und dieser Sachverhalt eigentlich zum Nationalcharakter gehört, das heißt nicht Ergebnis freier Entscheidung, sondern geradezu Doikiumentatlon der Natur der Deutschen ist. Die Begründung findet D. in den Disproportionen des Aufwuchses der deutschen Gesellschaft etwa bei der Industrialisierung, die „zu spät, zu schnell und zu gründlich” erfolgt 1st (Seite 47). In vielen Bereichen 1st eben Deutschland eine „verspätete Nation” (Seite 55); stets wird ln den bestimmten Motiven völkischen Handelns dem Nationalen, der Tradition, vor dem Rationalen der Vorzug gegeben. Eines der Resultate, die Motivationsstruktur, ist dann „jene Bourgeoisie, die keine war” (Seite 63).

In der sozialen Schichtung zeigt sich im Übergewicht der sogenannten „Dienstklasse” (Seite 108), die den Herrn, die Autorität an sich, begehrt und alle Schichten bewegt, in etatistischen Konzepten zu denken; auch die Industriellen. Dazu kommt noch eine unverkennbare „Versäu- lung” der deutschen Gesellschaft durch Region und Religion, die so weit geht, daß die einzelnen Dialekte sogar gesellschaftsfähig werden (Seite 465). Freilich vermag uns der Autor in beiden Fällen, vor allem in der Frage der Determination der deutschen Gesellschaft durch dile Religion, nur die Oberflächenerscheinung, nicht aber die letztbestlm- menden Ursachen darzustellen.

In der Situation sozialer Konflikte will man nicht wahrhaben, daß Auseinandersetzungen zur Konstitution von Synthesen, zur Aktivierung des Fortschritts erforderlich sind (Seite 197); man will die Konflikte verdrängen (Seite 204); sie werden institutionalisiert. Daher werden sogar die Gewerkschaften in die Manipulation der öffentlichen Konfliktregelung eingebaut. Das Urteil gilt auch für die Arbeiterbewegung als Ganzes. Dadurch kömmt es zur „Tragödie der deutschen Arbeiterbewegung”, die, 1914 eine „kaiserliche Arbeiterbewegung”, freilich 1918 den Staat rettet, weil sie zwar eine Radikalität in der Formulierung ihrer Ideen ausweist, aber elfte milde Praxis zeigt.

Formell für den Pluralismus, ist man dennoch stets für den einen an der Spitze; daher der Kafftpf gegen die „Herrschaft der Verbände” (Seite 233). Auch heute 1st die deutsche Gesellschaft autoritär; freilich ist sie nunmehr ohne Autorität (Seite 304); dieser Tatbestand scheint dem Autor ganz besonders ln der Vorliebe für die („deutsche”) Familie begründet zu sein. Jedenfalls gibt es eine Kontinuität der führenden Klasse in Deutschland, die sich stets anzupassen vermag. Nicht für alle Eliten gilt das, beispielsweise für die katholischen Bischöfe (Seite 255). Neben den etablierten Eliten entwickeln sich, scheinbar am Rand, neuartige Spitzengruppen, beispielsweise die „Kommunikationseliten” (Seite 285), in deren Einflußbereich sich jene absonderliche Subelite etabliert hat, die man die „Linksintellektuellen” nennt (Seite 318).

In einer Interpretation der „deutschen Tugenden” (Seite 396 ff) 1st D. bemüht, den „deutschen Charakter” an Hand eines „Tugendkata- logs” zu zeichnen, aus dessen Anlage der Weg „in die Diktatur” (Seite 415 ff) gegangen werden mußte, die im nationalsozialistischen Deutschland ihren Beginn und in der DDR ihre Fortsetzung in einem Teil Deutschlands findet; beides 1st die Folge einer politischen Unmündigkeit.

Das Buch ist eine oft überharte Kritik eines Deutschen an den Deutschen, indirekt eine Theorie der Demokratie an Hand von Beispielen ihres Nicht-Vollzuges.

Für die Gesellschaft Österreichs wäre eine ähnliche Analyse, wie sie D. für beide Deutschland bietet, eine Aufhellung der Gründe für unsere eigenartige Unmündigkeit etwa ln einzelnen Fragen der Wirtschaftsführung und einer gespielten Untertreibung unserer „Tugenden” von eminenter Bedeutung, vor allem wenn sie — wie bei D. — ohne Befangenheit und ohne Bedacht- nahme auf Bindungen erfolgt. Aber auch nicht böswillige wie jüngst von selten einer Hamburger Nachrichtenfabrik, die ln ihrem öater- relchhaß jedes Gefühl für Wahrheit und Fairneß vermissen ließ.

SOZIALKUNDE DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND.

Nach einer instruktiven vom Informationsamt der (deutschen) Bundesregierung herausgegebenen Publikation „Deutschland heute” und Half Dahremsdorfs sehr kritisch gehaltener polltologischer „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland” liegt nun eine dritte Gesamtschau über die BRD vor, weiche ln je einem Kapitel Politik, Wirtschaft und Sozialstrukturen vor allem unter soziologischen Aspekten darstellt.

Das Wort „Sozialkunde” wird Im Sinn einer Analyse der Sozialen Prozesse in des Wortes weitester Bedeutung verstanden, wobei versucht wird, das Wesen gegenwärtiger sozialer Fakten aus ihrer ausreichend angedeuteten geschichtlichen Entwicklung verständlich zu machen.

Im Kapitel Politik wird — Wie dies auch Dahrendorf im genannten Werk unternimmt — die gegenwärtige politische Struktur der BRD aus der Tatsache erklärt, daß die Deutschen so etwas wie eine „verspätete Nation” sind, wodurch Im Rahmen ihres Nach- und Aufholens gewisse Disproportionalitäten entstehen. Der Nationalsozialismus findet nach Ansicht der Verfasser eine bedingte Fortsetzung ln der Verfassungsmäßig legitimen „Kanzlerdemokratie” (Seite 34 ff), wozu noch kommt, daß eine Partei, die CDU/CSU, sich als permanente Regierungspartei etabliert hat Dadurch sind politische Merkmale entstanden, die als Folge der Alimentation der politischen Parteien aus Staatsmitteln noch markanter geworden sind. In teil- weiser Substitution der Herrschaft einer langdauemden parlamentarischen Mehrheit ist zudem eine „Nebenregierung” der Verbände und eine Autorltätskorrektur von den Ländern her entstanden (Seite 104).

In der Wirtschaft konstituiert sich allmählich die das völkische Leben erstbestimmende Einflußmacht. Raumstruktur, Arbeitspotentiale und Blldungskapltal (zusammen mit den deutschen „Tugenden” lm Sinne Dahrėnsdorfs) produzieren die absoluten und relativen Effekte der deutschen Wirtschaft. „Tugend” findet so eine kommerzielle Vergegen- ständlichung.

Die gegenwärtige deutsche Wirtschaft ist gekennzeichnet durch eine wachsende Konzentration und durch immer intensiver werdende internationale Verflechtung. Der Staat — und das seit dem Merkantilismus — ist lm Bereich der Wirtschaft sowohl als Arbeitgeber, noch mehr aber als Intervenient engagiert, mehr als anderswo.

Für das sozio-kulturelle System der BRD legen die Autoren eindrucksvolles Ziffemmaterlal vor, wenn auch einzelne Ziffern allzu weit zurückliegende Zeiträume betreffen (Seite 218). Im besonderen befassen sich die Autoren mit der deutschen Familie, mit ihrer neuartigen sozialkonformen Versorgung, mit dem Funktionswandel des Eigentums als Folge sozialpolitischer Maßnahmen und mit dem Aufwuchs der deutschen Konsumgesellschaft, welche die Einkommenszuwächse der Masse anzeigt. Bemerkenswert und gut belegt sind die Hinweise auf die Vorbildung der Deutschen als Determinante der sozialen Schichtung, die gleichzeitig eine Schichtung des jeweils vorhandenen Bildungskapitals darstellt.

Ein umfangreiches Datenmaterial, anschaulich gegliedert, macht das Buch nicht nur lesenswert, sondern läßt es auch als Nachschlagwerk ungemein geeignet erscheinen.

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