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Drei Viertel zu ein Viertel

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Wir haben seit 1945 eine Industrie, von der die gesamte Grundindustrie, die Bergwerke, die Eisen- und Stahlerzeugung, die Rohölgewinnung und -Verarbeitung, Unternehmungen des Maschinenbaues, der Elektroindustrie und des Verkehrs, sowie die großen Kreditinstitute Eigentum des Staates sind.

1950 hatten wir gegenüber 1937 eine Zunahme der unselbständigen Erwerbstätigen um 43 Prozent, obwohl die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt gegenüber 1937 nur um 5 Prozent zugenommen hatte. Seither hat zweifelsohne die Zahl der Unselbständigen weiter zugenommen. Das Verhältnis der Unselbständigen zu den Selbständigen ist grob 75 zu 25 vom Hundert.

Wir haben seit 1945 eine zum Großteil neue Schichte von Selbständigen, von denen jedoch eine beträchtliche Zahl durch Kredite aus öffentlichen Fonds (ERP, Investitionskredite, Subventionen. Steuerbegünstigungen, Garantien und öffentliche Aufträge) vom Staate und von der Staatsfinanz abhängig ist. Dazu gehört weiter die wirtschaftliche Verbundenheit dieser Selbständigenschichte mit der staatlich geförderten Vollbeschäftigung und Konjunktur und der Absicherungen aller Art gegen Risiken durch Subventionierungen. Wir haben weiter eine Landwirtschaft, die weitgehend staatlich preisgestützt und genossenschaftlich organisiert ist.

Als Land sind wir in den Prozeß einer ökonomischen Weltrevolution eingespannt: nichts anderes bedeutet die wirtschaftliche Integration, die sukzessive Zusammenlegung des internationalen Warenaustausches, die Niederlegung der Zollgrenzen und andere Maßnahmen, die nicht ohne starke Assistenz des eigenen Staates und der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen durchgeführt werden können. Zur Verschiebung der Konsumnormen gesellt sich hier im Interesse des wirt- Photo Adolf Woschalschaftlichen Bestehens abermals die staatlich organisierte Erhöhung der Produktionskapazitäten der eigenen Wirtschaftszweige und deren Angleichung an die der anderen Länder. Selbst wenn man es wollte, könnte man diesen Prozeß nicht aufhalten. Kommunikations- und zivilisationstechnisch sowie sozialpsychologisch sind die Grenzen bereits gefallen. Und nicht einmal die totalitär regierten Länder werden noch lange imstande sein, sich dem zu entziehen, wie die Massenemigration nach dem ungarischen Aufstand bewies, und die ideologische Loslösung der sowjetischen Jugend und ihr Drängen zur kulturellen Integration mit der übrigen Welt beweisen.

Von alldem gibt es kein Zurück mehr, und kein Ruf nach Askese und Entsagung kann den allgemeinen Zug aufhalten.

Finanzpolitik ist heute vieles zur gleichen Zeit. Als Sozialpolitik hat sie der Berichtigung sozialer Ungleichheit zu dienen. „Obwohl das Ideal gleichmäßiger Verteilung materiellen Reichtums uns weiterhin entschlüpfen mag“, sagt der1 englische Sozialhistoriker T a w n e y, „ist es nichtsdestoweniger nötig, sich mit seiner Verwirklichung zu beeilen, und zwar nicht, weil solcher Reichtum das höchste aller menschlichen Güter wäre, sondern gerade, damit bewiesen wird, daß er es nicht istᾠ“ Finanzpolitik ist weiter Wirtschaftspolitik, und kann als solche nicht auf die wirksamste, wenn auch unserem moralischen Standard entsprechende Mobilisierung unserer Ressourcen und soziologischen Gegebenheiten verzichten, auch wenn dies manchem nicht in seine Doktrin passen mag. Finanzpolitik ist heute Kultur- und Unterrichtspolitik und hat Vorsorge zu treffen, daß unserer Jugend und der ganzen Bevölkerung die Qualifikationen vermittelt werden, welche die zweite industrielle Revolution von uns fordert, wenn wir nicht in den Nachtrab gelangen und wenn wir nun doch einmal endlich Klarheit darüber bekommen wollen, daß wir kein „Entwicklungsland“, sondern ein moderner Industriestaat sind. Anderseits aber brauchen wir gerade deshalb eine Erziehung unserer Jugend, welche verhindert, daß uns die Technik über den Kopf wächst, daß wir zu deren Objekt werden und nicht umgekehrt sie zu unserem.

Theoretisch stehen einander Individualisten und Sozialisten in der Finanzpolitik gegenüber, und ihre respektiven Neigungen machen sich selbstverständlich fühlbar. Das soll auch gar nicht anders sein. Welche immer die Entwicklung sein und wie schnell sie gehen wird, ob die Eigentumsverhältnisse privater oder staatlicher werden, wird von den Österreichern abhängen. Feststeht jedoch in jedem Fall, daß die Tätigkeit und damit die Ausgaben des Staates infolge der immer umfassenderen und mannigfaltigeren nationalen und internationalen Aufgaben und der zu ihrer Lösung nötigen, immer komplizierteren gesellschaftlichen Organisation weiter zunehmen werden. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, das ist vor allem eine moralisch-erzieherische Frage.

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