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Eine Zeit geht zu Ende

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BESTANDSAUFNAHME OSTERREICH 1945 BIS 1963. Herausgegeben Ton Jacques Hannak. Forum-Verlag, Wien, 1963. 486 Seiten. Preis 159 S.

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BESTANDSAUFNAHME OSTERREICH 1945 BIS 1963. Herausgegeben Ton Jacques Hannak. Forum-Verlag, Wien, 1963. 486 Seiten. Preis 159 S.

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Das vorliegende Buch ist Rückschau durch Inventur, dargeboten in einer Situation, in welcher von vielen empfunden wird, daß eine Epoche, die wir bisher die „Nachkriegszeit“ genannt haben, eich in Liquidation befindet. Anscheinend kommt eine neue Epoche, die sich ohne Zutun, einfach aus dem Abbau jener Bedingungen konstituiert, die der bisherigen Bestand und Erfolg gegeben hatten. Diese Tatsache scheint die Herausgabe des Buches zu rechtfertigen, müßte man doch sonst annehmen, es wäre besser gewesen, erst zum Ende des zweiten Jahrzehntes des Bestandes unserer Zweiten Republik eine Gedenk-schrift herauszubringen.

Das Buch ist unvollständig. Es fehlt eine Bestandsaufnahme der „Druokgruppen“, denn sie sind es, die Österreich „regieren“; wir erfahren nur indirekt über die gewandelten sozialen Strukturen, nichts über die geistigen Strömungen, die es zumindest im Untergrund gibt, und auch so gut wie nichts über die Presse.

Den Reigen der Aufsätze eröffnet A. Migsch, der die für Österreich kenn- und auszeichnende Tatsache untersucht, daß die beiden Partner, obwohl sie seit 18 Jahren gleich stark sind, sich so vertragen, daß sie sich bisher keiner Opposition bedienen mußten. Nim soll das anders werden, denn die FPÖ ist, nach Migsch, eine liberale Partei geworden und kann ihren Spezialauftrag, die ÖVP stets gefügig für die SPÖ zu machen, immer besser, weil nunmehr auch für die SPÖ immer erträglicher werdend, durchführen.

K. Skalnik bietet in gleicher Weise eine Analyse der ÖVP unter Be-dachtnahme auf die Etappen ihrer Geschichte, wie auch einen Katalog von Hinweisen für die Ursachen der „Entideologisierung“ der Volkspartei. Im Ursprung bereits hündisch, interessentenkonform organisiert, kann die ÖVP nur den Charakter einer Wirtschaftspartei annehmen, und das tut sie, je mehr sie sich von den Impulsen des Ursprungs entfernt. In einem Nacheinander von Anpassungen ist die ÖVP nun eine bürgerliche Partei geworden, mit einem Bauern- und einem Arbeitnehmerflügel. Darin liegt die Tragik der Partei, noch mehr in dem Umstand, daß sie selbst nicht dessen gewahr geworden ist, wozu sie sich entwickelt hat.

O. Pollaks Beitrag über die Sozialisten in der Zweiten Republik ist leider nicht mehr als eine Aufzählung von Daten. Der Verfasser kommt über Beschreibungen kaum hinaus und läßt nichts von jener Leidenschaft der Formulierung spüren, die in den letzten Wochen seines Lebens alles, was er schrieb, kennzeichnete.

J. Toch bringt in seiner „Enklave KP“ interessante Einzelheiten aus der Geschichte der österreichischen KP, die der Verfasser als völlig standoftlos kennzeichnet, weil sie sich nur als Erfüllungsgehilfe einer fremden Macht zu verstehen vermag und ihre Niederlagen lediglich mit Prophezeiungen vergessen machen will (Druckfehler Seite 76: Come-con!).

J. Hindels untersucht mit Gründlichkeit alle Strömungen, die in Österreich als „national“ zu bezeichnen sind, und befindet sich in seiner Klassifikation in einem erstaunlichen Gegensatz zu Migsch.

Von E. März stammt eine umfangreiche Untersuchung zum „Wirtschaftswunder“ in Österreich. F. Klenner weist darauf hin, daß die Partnerschaft nicht eine sozialutopische Vorstellung, sondern durchaus Wirklichkeit ist, eine Kooperation von je für sich verschiedenen Interessentenverbänden ohne Aufgabe von Grundsätzen.

W. Hacker untersucht Österreichs Außenpolitik und kann den Beweis vorlegen, daß diese sich seit 18 Jahren, weil stets als eine gemeinsame Aufgabe der Parteien von diesen verstanden, kontinuierlich vollzieht. N. Leser tritt in einer umfangreichen Studie für eine Dynamisierung des Rechtes und seine ständige Anpassung an die gesellschaftlichen Wirklichkeiten ein.

L. Jedlicka geht auf die Frage ein, ob die Demokratie auch in der Wehrmacht unseres Landes einen Standpunkt hat, und vermag diese Frage mit Ja zu beantworten, während er anderseits feststellen muß, daß die von der Landesverteidigung ausgehenden Kontaktversuche mit den gesellschaftlichen Gebilden von diesen kaum aufgenommen wurden.

R. Barta bietet eine weit ausholende Analyse der Kirche in Österreich und weist vor allem auf den Unterschied des politischen und des parteipolitischen Katholizismus hin, ebenso auf den Umstand, daß die Kirche auf der einen Seite regen Kontakt mit der Welt zu nehmen sucht, während sie auf der anderen Seite sich aus der Welt zurückzieht.

G. Stratil-Sauer weist auf die finanzielle Situation der Wissenschaft und die nachdrücklichen Bemühungen hin, trotz der Knappheit der verfügbaren Mittel die Forschung in einem angemessenen Umfang aufrechtzuerhalten. J. Hannak rechnet vehement mit der Boulevardpresse ab, muß aber resigniert die Übermacht der Geschäftspresse, welche die politische Lethargie des Publikums auf ihrer Seite hat, anerkennen.

G. Fritsch legt eine kurze, aber nichtsdestoweniger hervorragende Literaturgeschichte der Zweiten Republik vor. Die restlichen Beiträge sind dem österreichischen Theater, Film, der Musik und bildenden Kunst, Rundfunk, Fernsehen und schließlich dem Sport gewidmet.

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