Die Illusion des freien Willens ...

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... und weshalb wir uns schleunigst von dieser verabschieden sollten.

Die Geschichte der Menschheit, insbesondere die europäische Geschichte, ist von einer merkwürdigen Ambivalenz geprägt: Einerseits kämpften die Menschen mit größtem Einsatz und unter enormen Verlusten für eine Erweiterung ihrer Freiheitsspielräume, andererseits ließen sie oftmals nichts unversucht, um den errungenen Freiheiten wieder zu entfliehen. Man denke etwa an die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, als sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung geradezu enthusiastisch von den Freiheiten der Demokratie verabschiedete, um dem "Führer" in blindem Gehorsam ins Verderben zu folgen.

Meine Vermutung ist, dass die Ambivalenz des Freiheitsstrebens in der europäischen Geschichte auch daher rührt, dass unsere fundamentalen Freiheitskonzepte, nämlich "Willensfreiheit" und "Handlungsfreiheit", in der Regel als siamesisches Zwillingspaar aufgetreten sind. So beglückend die Erweiterung unserer Handlungsfreiheiten empfunden wird ("Endlich kann ich tun, was ich will!"), so belastend kann der psychische Druck sein, der durch den Anspruch eines freien, angeblich von äußeren Faktoren unabhängigen Willens erzeugt wird ("Was ist, wenn ich als selbstverantwortliches Individuum das Falsche will, wenn ich versage und die anderen über mich und meine Unfähigkeit spotten?").

Weniger ...

Fraglich ist, ob die Erweiterung der Handlungsfreiheiten wirklich notwendigerweise über eine Erhöhung des psychischen Drucks, der aus dem Willensfreiheitskonzept resultiert, erkauft werden muss. Ich meine, dieser Eindruck entsteht nur, wenn man vom Konstrukt der Freiheit als siamesisches Zwillingspaar ausgeht. Wir wären gut beraten, wenn wir "Handlungsfreiheit" und "Willensfreiheit" sorgsamer voneinander trennen würden. Denn gerade die Befreiung von der illusorischen Freiheit - nämlich der Willensfreiheit im strengen Sinn - kann zu einer Stärkung realer Freiheiten - nämlich individuell erfahrbarer und gesellschaftlich bedeutsamer Handlungsfreiheiten - beitragen.

Vor einigen Jahren entdeckte ich auf der Nordsee-Insel Amrum ein Warnschild, das zeigte, dass in kommunalen Verwaltungsbehörden mitunter wahre Philosophen am Werk sind: "Vernünftige verlassen nicht die vorgegebenen Wege, lassen ihre Hunde nicht von der Leine und werfen keinen Müll auf die Sanddünen. Den anderen ist es unter Androhung von Strafe untersagt!"

... Willensfreiheit ...

Treffender kann man das Konzept einer autonomen Humanität kaum skizzieren. Ein Mensch, der sich dank der Determinanten seiner Lebensgeschichte von vernünftigen Argumenten, also von seiner objektiven Verantwortung gegenüber Mitmensch und Natur, leiten lässt, wird es nicht als Einschränkung seiner Handlungsfreiheit empfinden, wenn er dazu aufgefordert wird, das Naturschutzgebiet nicht zu zerstören. Er würde das nämlich von sich aus nicht tun, da er dies gar nicht wollen kann. Umgekehrt verhält es sich natürlich bei demjenigen, der aufgrund seiner Prägungen ein entgegengesetztes Selbstkonzept aufgebaut hat. Seine Handlungsfreiheit muss mit Rücksicht auf unsere Verantwortung gegenüber der nichtmenschlichen Natur und den nach uns kommenden Generationen notwendigerweise eingeschränkt werden.

Die "Weisheit des Westens" besteht darin, dass sie den Menschen aus den Fängen des Schicksalsglaubens befreit, das einzelne Individuum zum autonomen Gestalter seines Lebens erklärt und ihm entsprechende Handlungsfreiheiten einräumt. Das darauf gründende Projekt der "offenen Gesellschaft" verlangt allerdings, dass die Individuen von sich aus den Willen zur Vernunft, zur Humanität entwickeln. Wer sich objektiv unverantwortlich verhält, der muss - siehe das Warnschild - mit einer Einschränkung seiner Handlungsfreiheiten rechnen. Und je mehr Menschen sich in solch unverantwortlicher Weise verhalten, desto stärker geraten die gesellschaftlich garantierten Handlungsfreiheiten unter Druck. Die "offene Gesellschaft" lebt also in höchstem Maße von der Mündigkeit ihrer Bürger; sie ist darauf angewiesen, dass diese ein Selbststeuerungsvermögen ausbilden, das weitgehend dem Leitbild der autonomen Humanität entspricht.

In diesem Zusammenhang könnte nun der Abschied von der Illusion des freien Willens hilfreich sein. Wir finden erst jenseits der Willensfreiheit und der damit verbundenen Trias von Schuld, Sühne und Sünde günstige Bedingungen vor, in denen sich autonome Humanität angstfrei entfalten kann. Zur Verwirklichung der "westlichen Weisheit" täte uns daher ein Schuss "östliche Weisheit" gut. Wer sich nämlich als "Teil des Ganzen" erlebt und die notwendige Abhängigkeit des eigenen Selbst von dessen objektiven Bedingungsfaktoren anerkennt, der kann hiedurch jener Selbstwertproblematik entgehen, die das Selbststeuerungsvermögen vieler Menschen behindert und mitunter eine regelrechte Flucht vor der Freiheit auslösen kann. Wissend, dass jedes eigene Unvermögen oder Vermögen nicht auf uns selbst als "unbewegte Beweger" sondern auf chaos-deterministische Netzwerke von Ursachenfaktoren zurückzuführen ist, brauchen wir uns selbst und die anderen tatsächlich "nicht mehr gar zu ernst" nehmen und können, beschwingt durch diese neu erworbene "Leichtigkeit des Seins", angstfreier an der Entwicklung unserer Kreativität, unserer Kritikfähigkeit, unseres ethischen Urteilsvermögens arbeiten.

... bedeutet mehr ...

Von größter gesellschaftlicher Bedeutung ist dabei die mit dem Abschied von der Willensfreiheit verbundene Erkenntnis, dass die Unmündigkeit, aus der die Aufklärung die Menschen führen wollte, nicht selbstverschuldet ist, wie Kant meinte, sondern dass diese strukturell bedingt ist. Menschen entscheiden sich eben nicht aus freien Stücken für religiöse oder nationalistische Wahnideen, sondern nur, weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen und Informationen fälschlicherweise unterstellen müssen, dass dies für sie in der gegebenen Situation die beste Wahl sei. Die beiden maßgeblichen Faktoren, die solche ideologische Verbohrtheit fördern bzw. die Entwicklung autonomer Humanität hemmen, sind hinreichend bekannt: fehlende Chancengleichheit sowie mangelhafte Bildungssysteme.

Die Wirkung dieser beiden Faktoren kann man leicht anhand des gegenwärtig boomenden islamischen Fundamentalismus studieren. Um den hiermit verbundenen Gefahren effektvoll entgegentreten zu können, darf man sich natürlich nicht in das gleiche ideologische Fahrwasser begeben.

... Handlungsfreiheit

Die Freiheiten, die es heute zu verteidigen gilt, sind die fundamentalen Handlungsfreiheiten, die das Projekt der "offenen Gesellschaft" ausmachen: die Freiheit der Meinungsäußerung, der Kunst, der Medien, der Wissenschaft. Dafür lohnt es sich zu streiten. Der Kampf um die Willensfreiheit hingegen ist eine Don Quichotterie, die am Ende nur jenen dient, welche die Entzauberung ihrer Wahnideen mit allen Mitteln zu verhindern versuchen. Wer nach den Feinden der Freiheit und der "offenen Gesellschaft" sucht, wird in diesen Kreisen fündig werden - nicht aber in den Laboratorien der Hirnforscher.

Der Autor ist Schriftsteller, Kabarettist und Philosoph sowie Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung.

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