Die Nagelprobe der Revolutionen

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Im Eiltempo holen die arabischen Gesellschaften ihre demokratische Modernisierung nach. Was freilich derzeit - noch - fehlt, ist die politisch-philosophische Begleitmusik.

Seit rund einem halben Jahr steht die politische Welt im arabischen Raum Kopf - und zugleich die Ideenwelt in unseren Köpfen. Regime erzittern unter den Revolutionen ihrer demokratisch entfesselten Völker. So klar dabei der Ruf nach Freiheit, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit ist, so groß ist plötzlich die Verwirrung im bis dahin geordneten Ideenhorizont des Westens. Galten nicht die arabischen und nordafrikanischen Länder aufgrund ihrer Gemengelage von Islam und Tradition als "lost countries“ der Demokratie?

Nun haben vor den Augen der Weltöffentlichkeit zunächst das tunesische und das ägyptische Volk sich von jahrzehntelangen verkrusteten Autokratien befreit. Gesellschaften wagen einen Aufbruch, den zuvor kaum jemand für möglich gehalten hatte. Scheinbar fest verankerte, weil vom Westen aus wirtschaftlichen Erwägungen gestützte Regime fallen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Sie können nicht mehr erfüllen, was die junge Generation über Facebook, Twitter und durch Demonstrationen einforderte: Freiheit, sozialen Ausgleich und politische Partizipation. Die demokratische Revolte - sie ist zuvorderst eine demografische.

Wider religiöse Begründung von Herrschaft

Was indes schmerzhaft fehlt, ist die politisch-philosophische Begleitmusik. Denn politische Um- und Aufbrüche sind nie nur das. Stets werden sie von einer Ideengeschichte, von aufgeladenen Hoffnungen entweder vorbereitet oder in Reflexionen eingeholt. So füllt etwa die Literatur über die osteuropäischen Revolten von 1989 mittlerweile Bibliotheken. Noch ist es zu früh, die aktuellen Revolten zu bewerten, zu viel ist noch im Umbruch. Zeit jedoch, einen Zwischenruf zu wagen - mit der Grande Dame der Politischen Philosophie im Rücken: Hannah Arendt.

Es sind insbesondere drei Lehren, die Hannah Arendt den Nach-Denkenden revolutionärer Ereignisse auch heute noch mit auf den Weg gibt: erstens den Hinweis auf das unwiederbringliche Ende einer rückwärtsgewandten geschichtsphilosophischen Konstruktion; zweitens die Einsicht, dass jeder Versuch, politische Herrschaft metaphysisch oder gar religiös zu begründen, scheitern muss; drittens die Notwendigkeit, die durch den Sturz eines autoritären Regimes entstandene "Leerstelle der Macht“ (C. Lefort) stets neu als Ursprung des Politischen, als Triebfeder von Politik "in progress“ und als Grundbedingung funktionierender Demokratien überhaupt zu begreifen.

Die Revolutionen der Neuzeit gebären aus sich heraus eine innerweltliche Rechtfertigung von Politik. Das radikal Neue, das die Französische Revolution etwa mit der Entstehung der amerikanischen Nation teilt, ist diese radikale innerweltliche Fundierung. Der Hobbes’sche Leviathan als Sinnbild der politischen Allianz von Krone und Altar wurde enthauptet - nicht nur theoretisch, sondern wie im Falle von Charles I. in England und Ludwig XVI. in Frankreich ganz real. Oder wie es der Arendt-Experte und Politikwissenschaftler Helmut Dubiel ausdrückt: "In den modernen demokratischen Republiken wird politische Macht zu einem prinzipiell herrenlosen Gut, das man sich nur auf Zeit und nach festgelegten prozeduralen Kriterien aneignen darf.“

Doch noch etwas fasziniert die politische Philosophin: Wie lässt sich diese Leerstelle der Macht aushalten, ohne in alte sakrale Rechtfertigungsmuster zurückzufallen, wie dies in Frankreich, aber auch in den USA, zu beobachten war? Das Absolute - und sei es das totalitäre, ins gewaltvolle Grauen gewandte Absolute - blieb ja stets Gegenstand des Politischen, gleichsam als "Abziehbild göttlicher Machtvollkommenheit“. Selbst für die 89er-Revolutionen in Osteuropa lasse sich diese Suche nach geschlossenen Identitäten aufzeigen: Der Ruf "Wir sind das Volk“ wandelte sich rasch zu "Wir sind ein Volk“, stellt Dubiel fest. Das Volk wurde als einheitlicher homogener Körper dargestellt, der es jedoch weder damals war noch heute ist. "In allen Gesellschaften Mittelosteuropas wurde der aufgebrochene Raum totalitärer Macht gleich wieder abgeschlossen durch die einheitsstiftende Symbolkraft der ‚Nation‘.“

Nationalismus, Vernunftkult, Ideologien, gerade auch religiös verbrämte Politik - dies sind die Altlasten des Gottesgnadentums, die auch in den vom Pulverdampf der Revolte überzogenen jungen Demokratien das Politische gefährden. Ob diese Gesellschaften eine der Moderne angemessene, säkulare Autoritätsquelle finden und bewahren können, wird zur Nagelprobe für das Gelingen des arabischen Umbruchs. Denn erst dort, wo die Teilung in Herrschende und Beherrschte in eine Vielzahl politischer Subjekte aufgelöst wird, kann eine neue, "horizontale“ Politik entstehen. So kann Arendt formulieren, dass die Revolution "die Sache der Menschheit“ selbst vertritt, die Idee der Freiheit.

Blutauffrischung für Europa

Die Revolten haben der bequemen Haltung des Westens die Maske vom Gesicht gerissen und seine Fehleinschätzung offengelegt. Denn längst haben hinter der Mauer der Autokratie die Gesellschaften einen zarten Emanzipations- und Modernisierungskurs eingeschlagen. Längst haben sie durch technische Innovationen und Vernetzungen Zugang zu Bildern, Metaphern und Ideen von Demokratie und Gerechtigkeit erhalten, der ihnen verwehrt werden sollte. Längst sind ihre Bürger Weltbürger geworden. Die Gesellschaften sind jung, überwiegend gut ausgebildet, die Länder als Wirtschaftsnationen voll in den globalen Güter- und Finanzverkehr eingebunden.

Die arabischen Revolutionäre - sie haben aber auch eine Botschaft für Europa, beleben sie doch auf neue Weise die politische Vorstellungskraft eines demokratiemüden Kontinents. Apathie, ja selbst intellektuelle Verachtung für die Demokratie, drohen um sich zu greifen. Krise ist das zeitdiagnostische Wort der Stunde. Soziale Errungenschaften scheinen vielerorts auf dem Spiel zu stehen und dem Sparzwang der Haushalte zum Opfer zu fallen. Linke wie Rechte drängt es zur Polarisierung: Verfallsalarmismus links, Neonationalismen rechts.

Es ist verrückt, stellte Dubiel schon zu Beginn der Neunzigerjahre fest: Im Moment des Sieges liberaler Demokratie und mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus scheinen die demokratischen Systeme selbst "Opfer eines eigentümlichen Substanzverlustes“ geworden zu sein. So befällt den politisch sensiblen Zeitgenossen bei aller Solidarität im Hinblick auf den Nahen Osten und Nordafrika nicht zuletzt ein Hauch jener Melancholie, dort einen politischen Willen zu sehen, der in gesättigten "alten“ Demokratien zu schwächeln scheint.

Miteinander statt Gegeneinander

Was die revoltierenden Gesellschaften vorleben, ist hingegen im besten Sinne des Wortes "Subpolitik“: spontan und ungerichtet in ihrem Hervorbrechen, beseelt vom "Geist des Neubeginns“, wie Arendt sagt, symbolisch aufgeladen als vermeintlich homogene Bewegung, die zur Identifikation einlädt - und sei es nur eine Zeit lang - "nachmetaphysisch“ im besten Sinne, insofern Religion die Revolten höchstens beschleunigt, nicht aber begründet. Solche Politik versteht sich auch als solidarisch, insofern der Mensch in den Revolten auf sein nacktes Menschsein verwiesen ist - ein Menschsein, das jedoch nicht als ein Gegeneinander, sondern als Miteinander erlebt wird. Europa ist von den revoltierenden Gesellschaften des arabischen Raums nicht nur als gebende Gemeinschaft gefordert. Europa nimmt in diesem Fall auch und lernt.

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