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Von Giovanni zu Antonio

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Als die Ministerliste des neuen Kabinetts Moro bekanntgegeben wurde, haben alle jene, denen die italienische Geschichte kein Buch mit sieben Siegeln ist, aufgehorcht. Zum neuen Haushaltsminister wurde der Linkssozialist Antonio Giolitti bestellt. Der Name Giolitti ruft die große liberale Epoche der Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg in Erinnerung, der Giovanni Giolitti als langjähriger Ministerpräsident den Stempel aufgedrückt hat. Giovanni Giolitti war den Liberalen der Vorkriegszeit das, was Alcide De Gasperi den Christlichdemokraten der Nachkriegszeit war: mehr noch als eine große Persönlichkeit, eine Art feste Einrichtung, die über den Tod ihres Trägers nachwirkt, so etwa, wie man heute behauptet, der ermordete amerikanische Präsident lebe fort im Geist, den er beschworen hat, im „Kennedysmus“. War es möglich, daß Antonio Giolitti, der neue Haushaltsminister, von dem man wußte, daß er als 31jähriger kommunistischer Unterstaatssekretär war und bis zur ungarischen Revolution treu zu Togliatti hielt, mit Giovanni Giolitti mehr als den Familiennamen gemeinsam hat?

Antonio Giolitti wird nicht gerne an seinen bedeutenden Großvater erinnert. Während andere „nonni“ sehr viel Zeit für ihre „nipoti“ haben, mag sich Antonio nicht entsinnen, daß er jemals von seinem Großvater väterlicherseits mit einem Geschenk bedacht wurde. Uberhaupt hatte der alte Mann, über den man in der Familie soviel Wesens machte, kaum je Zeit für ihn. Nur ein einziges Vorkommnis ist Antonio über seinen Großvater lebendig im Gedächtnis haften geblieben. Als nämlich seine Mutter Enrichetta völlig unvorhergesehenerweise von Rom nach Turin fahren mußte und zur Platzreservierung den Kurier des Ministerpräsidenten bemühen wollte, durchkreuzte der alte Löwe die Absichten seiner Tochter, indem er in Anwesenheit von Antonio sagte: „Ich weiß nichts davon, daß es unter den Staatsämtern auch jenes der Tochter eines Ministerpräsidenten gibt. Wenn du eine Fahrkarte brauchst, gehe selbst zum Bahnhof und kauf dir höchstpersönlich eine!“

Antonio konnte nicht vergessen, wie „böse“ sein Großvater mit Mama war. Wenn es wahr ist, was viele Psychoanalytiker behaupten, daß die meisten wichtigen Entscheidungen der Erwachsenenjahre und die ganze Charakterbildung auf Kindheitserlebnisse zurückgehen, so kann man in diesen und anderen Vorkommnissen vielleicht die Antwort auf die Frage finden, warum Antonio Giolitti schon in jungen Jahren der Kommunistischen Partei beitrat und stets auf sedten der Linksextremen politisch tätig war. Freilich mag mit eine Rolle gespielt haben, was für viele italienische Intellektuelle, die in den dreißiger Jahren groß geworden sind, wegweisend war: daß der Faschismus als rechtsstehendes politisches System versagte, daß der Liberalismus in den Ruf einer überholten Ideologie kam und darum die Hoffnung auf den Linksextremismus gesetzt wurde — und dies um so mehr, als dieser Linksextremismus international verankert war und bis vor kurzem einen stetigen, scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug durch die Welt hielt. Jedenfalls macht man im kommunistischen und linkssozialistischen Führungskorps keinen Staat mit einem gutbürgerlichen Stammbaum, und so ist es denn nur verständlich, daß Antonio Giolitti nicht gerne an die ihn mit Giovanni Giolitti verbindenden Blutbande erinnert wird.

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