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Alcide de Gasperi

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Rom, Mai 1948 Alcide de Gasperi zählte 63 Jahre, als er im Juni 1944 als Minister ohne Portefeuille in das Kabinett Bonomi eintrat. Der großen Mehrheit des italienischen Volkes war sein Name damals kein Begriff, die zwei Jahrzehnte des faschistischen Regimes hatten seine politische Tätigkeit bis zur Machtergreifung Mussolinis in Vergessenheit geraten lassen. De Gasperi teilte damit das Schicksal der meisten führenden italienischen Politiker der vorfaschistischen Ära mit Ausnahme der wenigen, deren Name deshalb der breiten Öffentlichkeit geläufig war, weil sich Satire oder Polizeiregime besonders mit ihnen beschäftigt hatten. Die wenigsten Italiener konnten sich aber an den Sekretär des Pärtito Popolare Don Sturzos, den Dr. de Gasperi, erinnern und an die Worte, die er anläßlich der Auflösung dieser „Volkspartei” sprach: „Verzweifelt nicht an der Freiheit, erwartet die Stunde der Gerechtigkeit!”

Die neuen Machthaber gaben ihm allen Grund, einen Fluchtversuch zu wagen. Er wurde in Oberitalien entdeckt und wan- derte auf 18 Monate in das Zuchthaus von Regina Coeli. Die darauffolgenden 15 Jahre verbrachte er zwischen den Büchern der vatikanischen Bibliothek. Erst an der Schwelle des Alters war ihm bestimmt, sich seiner Berufung, dem Leben der Politik, wieder widmen zu können. Energie und klarer Verstand, Erfahrung und eine wahrhaft tiefe und umfassende Bildung machen ihn heute zu einer der bemerkenswertesten Gestalten der europäischen Nachkriegsr politik.

Dr. de Gasperi präsidierte allen fünf Regierungen, die Rom seit dem 10. Dezember 1945 gesehen hat. Wir können seinem trockenen Humor Glauben schenken, wenn er sagt, es wäre leichter gewesen, einen Sack Flöhe zu bewachen, als diese Regierungen zu führen. Ursprünglich saßen sechs Parteien, später drei in dieser Regierung, und manche Partei, darunter auch die kommunistische, verfolgte die Taktik, in der Presse und im Parlament die gleiche Regierung heftig anzugreifen, in der sie selbst ihre Minister sitzen hatte. Es schien damals, daß de Gasperis Genialität ausschließlich darin bestehe, die Parteigegensätze innerhalb der Regierung in den Formeln der Kompromisse Versanden zu lassen und allen Problemen auszuweichen, die zum Bruch führen konnten. Die Umstände zwangen ihn, immer schärfer umrissene Stellungen zu beziehen und einer heftigen Offensive die Stirn zu bieten, die von der seit Juni 1947 von der Regierung ausgeschlossenen Linken gegen seine Person gerichtet wurde. In diesem Ringen um die politische Gestaltung Italiens entfaltete der Ministerpräsident ein hohes Maß an Zähigkeit, Mut und Energie.

Das Ansehen de Gasperis unter seinen Landsleuten, die vor allem seine Selbstlosigkeit und persönliche Anständigkeit rühmend hervorheben, ist in den letzten Jahren in stetem Ansteigen begriffen gewesen, über die Grenzen von Partei und politischer Ansicht hinaus. Aus dem Exponenten einer Partei ist er der Champion der Sache Italiens schlechthin geworden, der Name de Gasperi wurde zum Gemeingut aller, in einem weiten Bogen von Parteiorientierungen, der sich von links nach rechts spannt. Ein vornehmer Publizist nannte ihn nach der letzten Wahlschlacht: „II salvatore d’Italia”, den „Retter Italiens”,Der gemäßigt (denkende Arbeiter stellt sich ebenso hinter seine Politik wie der Konservative, der sich nicht der Einsicht der Zweckmäßigkeit des wohlüberlegten und wohltemperierten sozialen und agrarischen Reform- programms de Gasperis verschließen kann. Seine bisherige Regierungstätigkeit hat viele Aktiva für sich zu buchen: eine straffe Wirt- schafts- und Finanzpolitik, die ihre Früchte zu zeigen beginnt und eine Stabilität des Preisniveaus und Hebung der Reallöhne mit sich brachte; einen lebhaften Rhythmus des Wiederaufbaus; eine allgemeine Rehabilitierung Italiens auf dem Boden der internationalen Politik; eine innerpolitische Konsolidierung, die mit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und dem Neuaufbau von Polizei und Heer Hand in Hand geht.

Der italienische Durchschnittspolitiker ist ein begeisterter und unermüdlicher Volksredner, der mit blumigen Worten und beredten Gesten seine Zuhörer für jede beliebige Sache zu begeistern weiß und im nächsten Moment ebenso beredt das frühere Gedankengebäude umzustürzen versteht. Diese Kunst der Redegewandtheit bewunderten schon die italienischen Juristen vor 2200 Jahren bei den griechischen Sophisten, und sie eiferten ihnen nach. De Gasperi hat nicht diesen Hang zur dramatischen Rhetorik, er ist nicht nervös genug, um sich in ein richtiges Feuer reden zu können. Sein nüchternes und kühles Naturell neiigt nicht zu schauspielerischen Posen: wenn er einmal in einer Rede von seinem Ton abgehen will, um gewaltigere Töne anzuschlagen, dann nimmt er — das verriet er einem Zeitungsmann — ein Gläschen Wermut.

De Gasperis Ruhe wird am besten durch seine Haltung im Juni 1946 illustriert. Italien wurde damals zu dem Referendum aufge- rufen, in dem es weh für oder gegen die Beibehaltung der monarchischen Staatsform entscheiden sollte. Der Volksentscheid fiel nur ganz knapp, mit 51 Prozent, gegen das Haus Savoyen aus. Umberto, der die Krone von Vittorio Emanuele III. erst vor wenigen Wochen übernommen hatte, machte Unregelmäßigkeiten in der Wahl geltend, wollte das Ergebnis überprüfen lassen, um es anzufechten, und hatte auch genug Anhänger, die seine Ansicht stützten. Durch zehn dramatische Tage erhob sich das Gespenst des Bürgerkrieges. De Gasperi kannte nicht Schlaf noch Ruhe in seinem Streben nach Klärung der Situation. Auf der einen Seite der Ministerrat, aus sechs Parteien zusammengesetzt, von widersprechenden Bestrebungen hin und her gezogen, so daß ihn de Gasperi „der Löwenkäfig” taufte; die Radikalen aller Schattierungen, die republikanischen Partisanen, die entschlossen waren, das Haus Savoyen auch mit Waffengewalt aus dam Land zu vertreiben; Tito, der am Isonzo Truppen zusammenzog. Auf der anderen Seite die kalte Entschlossenheit des Hofes am Quirinal, Umberto, der auf die 49 Prozent seiner Anhänger unter der Wählerschaft pochte, die legitimistischen Partisanen, darunter die Divisionen Mauri in Piemont unter ihrem berühmten einbeinigen General „Mimmo”, die sich drohend erhoben. Der Ministerrat sandte de Gasperi zu Umberto, um diesem nahezulegen, den Volksentscheid anzunehmen, um dem Land Blutvergießen zu ersparen. Vier Stunden ließ Umberto de Gasperi in den verlassenen Audienzsälen des Quirinal antichambrieren, empfing ihn schließlich mit kühler und distanzierter Korrektheit, die Audienz wurde zu einer wahrhaft dramatischen Auseinandersetzung. Beim Verlassen der Gemächer des Königs wischte sich de Gasperi die schweißtriefende Stirn und sagte einfach und trocken: „Per Bacco!” „Donnerwetter!”

Am nächsten Morgen reiste die königliche Familie nach Ägypten ab. Umberto gab sich geschlagen.

Trotz allen Erfolgen hat Alcide de Gasperi nicht seine Lebensform eines arbeitenden Bürgers verlassen. Es wird nicht viele Regierungschefs geben mit einer so bescheidenen Lebenshaltung wie er. Seine Wohnung, sein Geschmack, seine Familie gleichen jenen vieler anderer bescheidener Italiener.

Sein ernstes Gesicht mit der prägnanten Hakennase und der scharfgeschnittenen, wuchtigen Mundpartie gibt im ersten Augenblick das Gefühl einer einschüchternden Distanzierung. Sobald aber das Eis gebrochen isj, verwandelt sich die scheinbare Reserviertheit in ein herzliches humanes Verständnis. Die Augen hinter den dickgeränderten Hornbrillen werden lebhaft, und der Ministerpräsident zeigt sich als geduldiger Zuhörer und anpassungsfähiger Gesprächspartner, der viel Sinn für Satire und Humor hat. Er verabscheut Schmeicheleien, Komplimente, Schönredereien. Aus einer Antipathie macht er kein Hehl, er verachtet laute Popularität und sucht eine aus einer durchdaditen Meinung entspringende Zustimmung der anderen. Man spürt seine warme Menschlichkeit, wenn er seine Zuhörer mit „Amici, Freunde” anspricht, ob nun eine Handvoll Mitarbeiter oder eine Menschenmenge vor ihm steht, die die Piazza del Duomo in Mailand Kopf an Kopf füllt.

Alcide de Gasperi ist Katholik aus tiefster Überzeugung. Und noch eins hat er bekannt: „Ich glaube, die Demokratie ist ein Urinstinkt der menschlichen Gesellschaft.”

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