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PIETRO NENNI EIN SCHLÜSSEL ZUR ITALIENISCHEN POLITIK

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Der Mann mit der Hornbrille und dem rundlichen Gesicht und der unvermeidlichen Baskenmütze sieht dem Komiker Macario, einem der populärsten Spaßmacher Italiens, zum Verwechseln ähnlich. Er ist selbst eine der populärsten Persönlichkeiten Italiens. Wenn er im Rundfunk oder Fernsehen spricht, drängen sich Freund und Feind, ihn zu hören, zu sehen. Der Charme dieses jetzt 70jährigen Mannes (er wurde am 9. Februar 1891 geboren) bezauberte einst so verschiedene Naturen wie Benito Mussolini und Alcide De Gasperi, mit denen er auf Du stand. Wird Pietro Nenni zu einer Schlüsselfigur Italiens? Nach der von Kommunisten, Linkssozialisten und etlichen Rechtsstehenden gleichermaßen gefürchteten „Apertura a sinistra“, einer Öffnung der Regierungspolitik und Koalition nach links, die Italien die notwendige Sozialreform und die Sicherung vor einer kommunistischen oder quasi faschistischen Diktatur bringen könnte? Es lohnt sich, den Mann kurz näher zu besehen, um dessen Freundschaft unter anderen und nebst vielen anderen ein Mussolini und ein De Gasperi rangen. Nenni ist eine Chiffre europäischer Möglichkeiten, Krisen, Ratlosigkeiten und Probleme. Zuerst und zuletzt ist er aber ein Romagnole, ein Sohn der heißen Landschaft zwischen der Adria und dem Po, einer Heimat von Hitzköpfen und Kraftnaturen, die neben ihm eben auch einen Mussolini hervorbrachte. Nennis Vater war Bauer in gräflichen Diensten. Er starb, als Pietro fünf Jahre alt war. Der Junge kam ins Waisenhaus seiner Heimatstadt Fa- enza. Zehn Jahre lang trägt er die „schwarz-rot gestreifte Uniform der Lieblosigkeit“. Sonntags wird er der Contessa vorgeführt, für die sein Vater arbeitete, sagt ihr das Ave Maria auf, erhält eine Lira und darf in der Gesindeküche Fleisch essen. Er verläßt das Waisenhaus mit wenig Schulbildung — und als ein Feind der Kirche.

Der junge Nenni schläft auf Parkbänken, hungert und demonstriert für die Republik. Er wird in Forli Sekretär der Landarbeitergewerkschaft. Erste Begegnung mit dem 28jährigen Mussolini, der damals die Wochenzeitung „Klassenkampf“ herausgibt. Die beiden studieren zusammen Sorels Theorien des gewaltsamen Umsturzes, befreunden sich und tragen gelegentlich vor der Kirche San Mercuriale einen Boxkampf aus. Einige Zeit sitzen sie gemeinsam im Gefängnis. Zweiunddreißig Jahre später begegnen sie sich nochmals im Gefängnis: am 28. Juli 1943 auf der Insel Ponza im Golf von Gaeta. Mussolini, der zeitlebens in einer Haßfreundschaft an Nenni hing, war drei Tage zuvor gestürzt und verhaftet worden. Nenni war nach Ponza von Mussolini verbannt worden, nachdem die Gestapo ihn in Frankreich als alten Spanienkämpfer und Emigranten verhaftet und an Italien ausgeliefert hatte.

1919 nahm Nenni an der Gründungsversammlung des faschistischen Kampfbundes in Bologna teil. 1920 tritt er ins sozialistische Lager über. 1926 emigriert er mit der ganzen Familie nach Paris. Anfangs der dreißiger Jahre konzentriert Nenni seine Tätigkeit auf Deutschland. Zwei Reichsbannerkompanien empfangen ihn in Hamburg. Nenni beschwört die Deutschen zur Einigkeit gegen rechts. Im Jänner 1932 spricht er im Berliner Sportpalast: „Denkt an Italien. Laßt euch von den Nazis nicht verführen. Ihr Sozialismus ist nur eine Maske.“ Flucht nach Frankreich, diesmal aus Deutschland. Volksfront: Sozialisten mit den Kommunisten, gegen Hitler und Mussolini. Nenni geht in den Spanienkrieg zur roten Legion „Garibaldi“. Im Februar 1943 wird er auf Ansuchen Mussolinis aus Paris von den Deutschen nach Italien gebracht. Das rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Anfang August 1943 steht er als freier Mann in Rom, beginnt seine politische Arbeit, übernimmt als Generalsekretär die Reorganisation der Sozialistischen Partei. Als stellvertretender Ministerpräsident gehört er dem Kabinett Parri, dem ersten Kabinett De Gasperi, dann dem zweiten Kabinett De Gasperi als Minister ohne Portefeuille, dann ab 19. Oktober 1946 als Außenminister an. Nach der Spaltung seiner Partei tritt er als Minister zurück; nun beginnen die langen, wirren Jahre seiner Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Stalin wird ihm den Friedenspreis verleihen.

1957, nach den Erhebungen in Polen und Ungarn, beginnen Nennis entschiedene Lockerungsübungen: er möchte sich von der Vormacht der Kommunisten trennen, will jedoch gleichzeitig sein altes Ideal, „die Arbeitereinheit“, nicht preisgeben, da er in ihr die einzige dauerhafte Garantie gegen Reaktion und Faschismus sieht. Dieses sein inneres Dilemma, Ausdruck einer spezifisch italienischen Tragödie und der dramatischen Geschichte des letzten halben Jahrhunderts, läßt diesen klugen, gescheiten, humorvollen und im Wort so schlagkräftigen Mann nach wie vor zu einer Sphinx für die einen, zu einem Ritter von der traurigen Gestalt — Don Quijote mit dem lachenden Gesicht, sehr italienisch — werden. Auch dies ist jedoch festzuhalten: Wenn der Tod ihn nicht abruft, wird seine Stimme und sein Tun Italiens Geschicke in naher und weiterer Zukunft mitbestimmen.

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