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Macht mir die Mitte stark…

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Schwarze Fahnen wehen in Italien. Zuerst in Sella Valsugana, dann in Trient, in Mailand und in Rom. Bald wußten es auch die Leute im „Mezzogiorno“ und mit ihnen ganz Europa: Alcide De Gasperi lebt nicht mehr. Im Trentino — seiner engeren Heimat —, nicht allzufern von dem Ort, in dem er vor 73 Jahren geboren wurde, ist der unbestrittene Führer der Democrazia Cristiana, der Staatsmann, von dem Präsident Eisenhower, als er noch General war, einmal sagte, daß er ihn unter allen europäischen Politikern am tiefsten beeindruckt habe, einem Herzschlag erlegen. Ein Lebenskreis hat sich geschlossen.

Er begann im alten Oesterreich. 1881 und noch viele Jahre breitete der Doppeladler auch über Trient seine Schwingen, schickte man von hier seine Söhne nach Wien auf die Universität De Gasperi hat hier sein Doktorat in Germanistik erworben, zogen die Abgeordneten des italienisch sprechenden Teiles Tirols in das Hohe Haus am Franzensring in Wien ein. Der junge Alcide De Gasperi, den ein wacher Sinn früh zum Journalismus und zur Politik geführt hatte, war 1911 mitten unter ihnen. Wie von allen Legislaturperioden liegt auch das Verzeichnis der in diesem Jahr gewählten Vertreter der Nationen in Wien auf. Wer in seinen vergilbten Seiten blättert, begegnet hier dem Bild des jungen Abgeordneten der Italienischen Volkspartei. Ein scharfgeschnittenes Gesicht, in das die kommenden Jahrzehnte ihre Runen zeichnen werden…

Wenn man gerade in den letzten Tagen, wie schon manchmal früher, von dem Irredentisten“ De Gasperi reden hörte, so widersprechen dem die Tatsachen. Es weilen noch Menschen unter uns, deren Erinnerung ein ganz anderes Bild zeichnet: einen jungen Italiener österreichischer Staatsbürgerschaft, der wohl mit Elan die Rechte seiner Nation vertritt, der aber weit davon entfernt ist, Feuer auf das Dach des alten Hauses zu setzen. Die letzten politischen Gegner des Verstorbenen haben — auf ihre Weise — diese Korrektur einer schiefen Darstellung bestätigt. Noch im Wahlkampf des Jahres 1953 scholl, wenn alle Argumente versagten, von Kommunisten ebenso wie von Neofaschisten dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten gleich einem Schimpf das Wort „Austriaco" entgegen.

Zurück in das noch „kaiserliche" Trientt Hier kreuzt der junge katholische Journalist die Klinge mit manchem politischen Gegner. Eines Abends steht er im Rededuell einem ungefähr gleich alten Sozialisten gegenüber. „Wir werden einander noch begegnen“, ruft dieser ihm zu. Der junge Sozialist heißt Benito Mussolini.

Und sie begegnen einander. 1922, da Trentino gehört zu Italien, De Gasperi, der seine katholischen Landsleute mit dem gleichen Nachdruck wie einst in Wien nun in Rom vertritt, ist gerade auf der Hochzeitsreise. Da stoppt der Zug. Ein Transport von Schwarzhemden erzwingt sich freie Durchfahrt — zum „Marsch auf Rom…“

Der Gegner von einst ist der Diktator Italiens, De Gasperi aber ein suspekter katholischer Intellektueller, die rechte Hand des Populistenführers Don Sturze, für den böse Tage der Flucht, Verfolgung und Einkerkerung kommen. In der Bibliothek des Vatikans findet er Zuflucht und Brot. Lange Jahre einer „inneren Emigration“ beginnen.

Diese endet erst 1945. Als es aus dem von Krieg und Brudermord verheerten Italien wieder einen Staat zu zimmern gilt, hört die Welt das erstemal den Namen De Gasperi. Sie hört ihn immer öfter … Als unbestrittener Führer der Democristiani und als langjähriger Regierungschef führt De Gasperi sein Land aus der Katastrophe zu neuem Ansehen. Wenn die Anhänger des Faschismus zu ihrer Zeit alle Einwände gegen ihr System gerne mit dem Argument aus dem Felde zu schlagen versuchten, daß jetzt wenigstens die Züge in Italien keine Verspätung haben, so lieferte das demokratische Italien unter De Gasperi den Beweis, daß die Züge auch ohne Diktatur pünktlich verkehren können …

Der Sohn des italienischen Teils Tirols brachte in die Tiberstadt den Wirklichkeitssinn, die Ausdauer und Zähigkeit des Gebirgsbewohners. „Die Geduld, Tugend der Demokratie" hieß nicht ohne Beziehung ein Vortrag De Gasperis in der belgischen Hauptstadt. Und ein Schweizer Korrespondent wußte einmal ein treffendes Porträt zu zeichnen:

,.De Gasperi ist auffallend zäh und geduldig. Wo andere voreilig eingreifen, wartet er ab. Wo andere überstürzen, denkt er nach. Nie greift er nach einer unreifen Frucht. Er läßt die Menschen sich austoben und die undurchsichtigen Lagen klar werden. Diese seine Haltung verleiht ihm eine große Sicherheit. Man hat in Italien den Eindruck, es gebe kein noch so schwieriges und heikles Problem, das De Gasperi nicht zu lösen imstande wäre. Er stand schon vor mancher Krise in seinem Kabinett: jedesmal gelang es ihm, eine befriedigende Lösung zu finden. Auch äußerlich ist De Gasperi ein Bergler geblieben. Er geht einen bedächtigen Schritt, mit leicht nach vorn gebeugten Schultern. Nichts erinnert an seinen protzig und aufgeblasen einherschreitenden Vorgänger."

Ein solcher nüchterner Sinn entsprach dem Geist der christlichen Demokratie, auf deren Fahne De Gasperi geschworen hatte. Christliche Demokratie? Wie oft hören wir diese Worte, wie viele — allzu viele — führen sie im Munde. Wenn sie einem Politiker nicht ein Lippenbekenntnis waren, dann bestimmt Alcide De Gasperi. Einen neuen Freiheitsbegriff aus christlichen Wurzeln zu reali-sieren: das war sein Programm. Und mit dem Wort „Freiheit“ „Libertas" steht auf allen Parteiabzeichen der Democristiani kannte er keinen Spaß. Machtvoll verteidigte er diese in verschiedenen Wahlgängen gegen die verbündete kommunistisch-linkssozialistische Koalition. Energisch verwehrte er sich innerhalb seiner eigenen Partei gutgemeinten Ratschlägen, nach rechts zu rücken, ein Gespräch mit den Monarchisten und Neofaschisten anzuknüpfen. Wenn der bekannte General Schlieffen seinem Kaiser den Rat gab, „Macht mir den rechten Flügel stark“, so gab Alcide De Gasperi der italienischen Nachkriegsdemokratie als Gesetz: „Stärkt mir die Mitte!“

Die Mitte: der Ausbildung der europäischen Mitte zwischen den Weltmächten galt die wache Sorge des Außenpolitikers De Gasperi. Das Dreigestirn Schuman-De Gasperi-Aden- auer zeichnete sich für eine Weltsekunde als eine Hoffnung am politischen Horizont ab. Nun, Schuman hat das Steuer schon lange aus der Hand geben müssen, und daß De Gasperi gerade am Vorabend der bedeutungsschweren Konferenz von Brüssel die Augen für immer schloß, erfüllt alle, die die europäischen Staaten nicht in ihren Nationalismus der dreißiger Jahre — mit allem was nachher kam — fallen sehen wollen, mit Beklemmung.

Gerade hier bleibt eine Hoffnung: Auch innerpolitisch war der Kurs De Gasperis schon einmal in Frage gestellt. Nach den unglücklichen Juniwahlen 1953 folgte" eine Zeit der Experimente und der Unsicherheit. Das Konzept De Gasperis schien überholt. Heute steht die Koalition der Parteien des Zentrums unter Scelba auf festerem Grund denn je. Darf man hoffen, daß die europäische Politik De Gasperis nach manchen Irrungen und Verwirrungen dieselbe Rechtfertigung erfährt?

Eines kann der Tote von Sella Valsugana mit ins Grab nehmen: das Bewußtsein, das eigene Haus gut bestellt zu haben. In der Democrazia Cristiana hat, von De Gasperi selbst noch gefördert, Amintore Fanfani als Sprecher einer sozialreformatorischen jungen Generation das Steuer ergriffen. Wenige Wochen trennen uns erst von dem Parteitag von Neapel, auf dem sich dieses zutrug. Wenig informierte Kommentatoren sprachen damals von einer Kaltstellung De Gasperis. In Wirklichkeit trug dieser sich mit dem Gedanken, seine Kandidatur zu den nicht allzufernen Wahlen für den Präsidenten der Republik anzumelden. Dieser letzte Wunsch, diese Krönung eines reichen Lebens, ist Aldice De Gasperi versagt geblieben.

Sein Aviso aber, das er den nachrückenden jungen Parteifreunden als Vermächtnis hinterlassen hat: „Die Democrazia Cristiana ist eine Partei der Mitte, die nach links marschiert“, macht an den grün-weiß-roten Grenzpfählen nicht Halt. Dieser Zuruf wird wohl verstanden bei allen, die sich heute vor dem Grabe Alcide De Gasperis verneigen, die mit ihm das Bekenntnis zur christlichen Demokratie teilen.

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