6608437-1954_35_03.jpg
Digital In Arbeit

Persönliche Erinnerungen

Werbung
Werbung
Werbung

An einem sonnigen Frühjahrsmorgen vor 53 Jahren schwenkte eine kleine Gruppe von Hochschülern auf dem Wege zur Universität in die Wiener Alser Straße ein. Ich sehe die kleine Schar fröhlicher junger Leute heute noch vor mir. Sie trugen eine barettartige Kopfbedeckung und gaben sich als österreichische Italiener zu erkennen. Eine Hand winkte - mir grüßend zu, die Hand Alcide De Gasperis, des mir wohlbekannten aus Südtirol stammenden Studenten der Germanistik, des Gründers des Studentenvereines „Unione Cattolica Italiana“, der eben daran war, sich auf der Universität vorzustellen. Abends waren wir einige Deutschösterreicher bei ihrer bescheidenen Gründungsfeier zu Gast. Wir verstanden uns gut mit diesen Südtirolern und Görzern. Die ingrimmigen Gegner unserer Freunde waren auf der Aula ihre nationalistisch-irredenti- stisch angekränkelten Landsleute. Die Mitglieder der „Unione“ hatten es hier nicht leicht, und auch nicht später, als der politische Streit um die Errichtung einer italienischen Rechtsfakultät anhub, für die als Standort von den Wortführern dieses nationalen Verlangens Trient, das Hauptquartier der damaligen Irredenta, gefordert war. Naheliegend war es, daß unter vielem Hin und Her Innsbruck gewählt wurde, die Hauptstadt des Kronlandes, das wie kein anderes weitschauend die Zweisprachigkeit seiner Intelligenz von der Mittelschule an gepflegt und an seiner Universität für Hochschulprüfungen in der Muttersprache seiner italienischen Minderheit vorgesorgt hatte. Aber die jungen Köpfe waren erhitzt. Deutschnationaler Uebereifer sah in der neuen Einrichtung eine Bedrohung des deutschen Charakters der Innsbrucker Universität; in einer ganz üblen Affäre, einer Straßenschlacht, mit der die Eröffnung der italienischen Rechtsfakultät begangen wurde, fand diese Gründung ihre Ende. Unter den Gästen, die zu der Feier aus Wien gekommen waren, war auch Alcide De Gasperi Teilhaber des harten Erlebnisses geworden. Er hat daraus keine Konsequenzen gezogen. Mehr als das damalige nationale Durcheinander und alle irredentischen Kombinationen interessierte den jungen Mann das christlichsoziale Wien seine Musterleistung auf dem Gebiete sozialer und epochemachender kommunalpolitischer Schöpfungen und die glänzenden Erfolge im Aufbau landwirtschaftlichen und gewerblichen Genossenschaftswesens in Niederösterreich. Die feurige Natur des jungen Mannes begeisterte sich an diesem praktischen Exempel. Mit beiden Füßen stellte er sich hinein in die durch das Wiener Beispiel veranschaulichte Arbeit der jungen chistlichsozialen Bewegung seiner Südtiroler Heimat. Aus Trient meldete er sich am 1. Jänner 1904 in der „Reichspost“ zu ihrem zehnjährigen Bestand mit einem Aufsatz zum Wort, in dem er die Leistungen seiner Südtiroler Gesinnungsgenossen auf dem Gebiete der genossenschaftlichen Wirtschaftsorganisation schildert, Errungenschaften, die von der jungen Generation in Südtirol innerhalb eines Jahrzehnts im Zeichen der christlichsozialen Wirtschaftsreform gewonnen worden waren: In seiner Heimat — erklärte er — sei das politische Leben durch den nationalen Kampf so vergiftet, daß der Gedanke nahegelegen gewesen sei, abseits der Politik „zunächst die Mitarbeit an der genossenschaftlichen Selbsthilfe der einzelnen Stände praktisch zu ver- zu verwirklichen“. De Gasperi führte an:

„In zehn Jahren — 1891 bis 1901 — ist die Zahl der Konsumvereine auf 155, der Raiffeisen- kassen auf 122 gestiegen, und dies bei einer Gesamtbevölkerung von nur 440.000 Seelen. Daneben entstanden 300 Genossenschaftskäsereien und Genossenschaften für elektrische Licht- und Kraftanlagen. 1900 folgte die Er-

Öffnung einer Großeinkaufsgenosfnschaft in Trient, die ein Jahr später schon 160 Konsum-, Kredit- und landwirtschaftliche Arbeitergenossenschaften mit zusammen 15.000 Familien zählte. Die Gesamtsumme des dem Volke durch das Genossenschaftswesen in Italienisch-Südtirol jährlich ersparten Geldes wurde Ende 1901 schön auf 1,75 Millionen Kronen berechnet." Als De Gasperi in den Wahlen 1911 — er hatte gerade das passive Wahlrecht erreicht — in den Reichsrat entsendet wurde, trat er mit seinen Südtiroler christlichsozialen Volksgenossen im Parlament als Freund und Bundesgenosse an die Seite der deutschen christlichsozialen Partei, ein Verhältnis, das sich durch den Wandel der politischen Gestaltungen erhielt. Noch nach Jahrzehnten fand es Ausdruck in der warmen persönlichen Freundschaft, die De Gasperi mit Minister Ing. Figl verband, und vor nicht langer Zeit den italienischen Ministerpräsidenten eine österreichische Einladung zu einer gastlichen Rast im steirischen Mürztal annehmen ließ. Es sollte zu diesem Besuche in Oesterreich nicht mehr kommen.

Nicht zu vergessen ist es, daß die Südtiroler italienischen Christlichsozialen, so lange sie österreichische Staatsbürger und Mandatsträger waren, in aller Versuchung und seelischen Bedrängnis, inmitten eines umstürzlerischen Schicksalshaften Ablaufs der Ereignisse ihre Treue zu ihrem Volkstum mit ihrer loyalen Korrektheit gegenüber dem Staate, der durch Jahrhunderte ihr Haus und ihr Schutz gewesen war, zu vereinigen gewußt haben. Wie Alcide De Gasperi von Oesterreich Abschied nahm, davon konnte der Verfasser dieser Zeilen Zeugnis geben.

Die Katholiken Italiens wußten rasch den Publizisten und Parlamentarier aus Südtirol an den rechten Platz zu stellen. Aber auch der Faschismus wußte um diesen Mann und seine Fähigkeiten Bescheid und beeilte sich, nach seiner Machtergreifung diesen Gegner sobald als möglich hinter Schloß und Riegel zu bringen. Alcide De Gasperi fand nach seiner Freilassung im Bibliotheksdienst der Vaticana im März 1938 eine schwer angreifbare Stellung. Als ich anfangs März 1938 in Rom weilte, führte er mich in der Vatikanischen Bibliothek auch in den großen Saal, in dem die nach Staatsgebieten geordneten Register gesammelt sind; in diesem mächtigen Stapelplatz bibliothekarischer Ordnung bereitete es ihm Freude, zu zeigen, was Oesterreich in der Welt der Dokumente und der Bücher bedeute, ermeßbar schon an dem Umfang dieser gewaltigen Auskunftei über Menschheitsschaffen und Menschheitsgeschichte.

Was war das für ein schöner Abend, als wir draußen in Trastevere in dem Vorgarten einer Osteria, harmlos getarnt durch die Anwesenheit unserer Frauen, in weitausgreifender Aussprache beisammensaßen! Er trug alles schwere Erleben heiter, zukunftsfreudig, aktionsbereit, in einem Gottvertrauen, das sein ganzes Denken durchleuchtete, ein Unbesiegbarer, der auch als bescheidener, kaum von der Oeffentlichkeit geachteter Büchermann schon den Marschallstäb in seiner Aktentasche trug.

Da ich Alcide De Gasperi wiedersehen durfte, war er längst nicht mehr der kleine Bibliothekar aus dem stählernen Labyrinth der Büchergerüste der vatikanischen Schatzkammer des Geistes, da war er selbst unter die Gestalter der Geschichte des Jahrhunderts eingerückt.

Hoch über dem in der Tiefe blauenden Albaner See liegt an dem Bergrücken über Grotta Ferrata gegen Westen mit dem Blick auf Castel Gandolfo und seine päpstlichen Gärten das schlicht-schöne Landhaus, das die Partei der Democristiani ihrem großen Führer zu seinem 70. Geburtstag geschenkt hat. In seinem Bibliothekszimmerchen empfing er den Gast. Unser Gespräch beschäftigte sich mit der Gegenwart und war nicht für Publizität bestimmt. Die Stunde bei De Gasperi, dem europäischen Staatsmann, erhellte den Ausblick in die Ferne. „Grüßen Sie mir Wien, und denken Sie in St. Stephan an mich!" sagte er, da er mir zum Abschied die Hand drückte.

Als ich aus dem Hilus hinaustrat, das in einsamer Stille dazuliegen schien wie die Klausnerei eines Weisen, dem die Welt nichts mehr anzuhaben vermag, breitete sich draußen das milde klare Licht des Spätherbsttages der römischen Campagna über die Landschaft.

Nun ist er heimgegangen. Ich möchte ein Sträußchen Herbstenzianen und Edelweiß an seinem Grab niederlegen…

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung