Mit geschlossenen Augen

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Milo Dor zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 90 Jahren: Wie das chaotische Attentat von Sarajewo ganz Europa in eine Kriegshysterie riss, in deren Folge vier Großreiche untergingen.

Man hat über kein Ereignis der Geschichte so viel, so leidenschaftlich und oft mit unverhohlenem Hass geschrieben wie über das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie von Hohenberg am 28. Juni 1914, in dem man allgemein den Anlass für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sieht. Die Folgen dieses Krieges sind unübersehbar, weil sie noch fortdauern, so dass man das Ganze schwer als Schnee vom Vorjahr abtun kann.

Er habe mit geschlossenen Augen geschossen, gab der junge Attentäter Gavrilo Princip vor dem Untersuchungsrichter Leo Pfeffer zu, der nach und nach sein Vertrauen gewonnen hatte. Eine Stunde zuvor hatte der ebenfalls neunzehnjährige Schriftsetzer Nedjelko ÇCabrinovi´c, der seiner eigenen Aussage nach ein überzeugter Sozialist und Anarcho-Syndikalist war, eine Bombe auf den Wagen des Thronfolgerpaars geworfen. Sie fiel auf das zusammengefaltete Dach, von dort auf die Straße und explodierte erst unter dem übernächsten nachkommenden Wagen, in dem die Begleitung der hohen Gäste saß.

Kontroversen um Sarajewo

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erschien eine Menge Literatur zum Attentat von Sarajewo, doch jeder Schreiber versuchte, seine eigene Seite zu rechtfertigen und die andere anzuschwärzen. An Sarajewo schieden sich offenbar die Geister. Erst die jüngsten Veröffentlichungen im ehemaligen Jugoslawien sowie die Möglichkeit, alle zeitweise verschlossenen, "verlegten" und regelrecht entführten Dokumente einzusehen, vor allem die Protokolle der Verhöre, die der um Sachlichkeit und Wahrheit bemühte Untersuchungsrichter Leo Pfeffer mit den Attentätern geführt hatte, erlauben es, sich ein etwas objektiveres Bild von den scheinbar verworrenen, düsteren Ereignissen des Jahres 1914 zu machen.

Dass Bosnien einige Jahrhunderte lang unter türkischer Herrschaft war, sieht man heute noch an den vielen Moscheen sowie an der Kleidung und an den Bräuchen eines Teiles seiner Einwohner. Der türkische Einfluss hatte sich hier am längsten erhalten. Den Serben gelang es nach zwei blutigen Aufständen (1804 und 1815), nach und nach ihre Selbständigkeit zu erlangen. Als die nicht-muslimischen Einwohner Bosniens sich 1875 gegen ihre Herren erhoben, ging es ihnen weniger um nationale Unabhängigkeit als um soziale Fragen. Das Land, das diese armen Bauern bebauten, gehörte ja den türkischen Feudalherren. Das mächtige Osmanische Reich wurde nach drei Jahren erbitterter Kämpfe mit den Aufständischen nicht fertig, so dass es sich 1878 beim Friedenskongress in Berlin damit einverstanden erklären musste, Bosnien und die Herzegowina der österreichisch-ungarischen Verwaltung zu überlassen.

Die Annexion Bosniens

Die Doppelmonarchie bekam das Mandat auf dreißig Jahre, um das Land zu befrieden. Die österreichische Periode in der Geschichte Bosniens bedeutete sicherlich einen Fortschritt gegenüber der endlos langen türkischen Besatzungszeit, die neuen Herren in Wien und Budapest versäumten es jedoch, eine tiefgreifende Agrarreform durchzuführen, sie wollten die türkischen Landbesitzer nicht verärgern, denn Bosnien und die Herzegowina gehörten weiterhin formal zum Osmanischen Reich. Außerdem war die Doppelmonarchie selbst ein verkrustetes, feudales Staatsgebilde.

Als 1908 das Mandat erlosch, eignete sich die Doppelmonarchie Bosnien und die Herzegowina, "dieses jüngste Kleinod der Krone", einfach an. Die Unruhen wurden von den entsandten Ordnungstruppen im Keim erstickt. Als es zu dieser Zeit allerlei andere internationale Verwicklungen gab, beeilten sich die Großmächte, ihren Segen dazu zu geben. Die Eskalation der nationalen Unruhen wird verständlich, wenn man bedenkt, dass zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nur 25 Prozent der Bevölkerung des riesigen Reichs deutschsprachig war, 16 Prozent machten die Ungarn aus und 45 Prozent die Nord- und Südslawen, die in diesem künstlichen Gebilde nur eine untergeordnete Rolle spielten. So war es nicht verwunderlich, dass sie aufbegehrten.

Als 1912 die kleinen slawischen Völker auf dem Balkan - Bulgarien, Montenegro und Serbien - gegen das Osmanische Reich loszogen, um die endgültige Befreiung der seit Jahrhunderten besetzten Gebiete zu erwirken, überlegte man im Wiener Kriegsministerium ernsthaft, Serbien den Krieg zu erklären, um dem Osmanischen Reich, das einst Wien und ganz Europa bedroht hatte, beizustehen. Es wäre eine Entscheidung, einem sozusagen ebenbürtigen Rivalen zu helfen, der von den namenlosen Parias bedroht wurde. Das zögernde Österreich vereitelte dieses Vorhaben.

Eine "spektakuläre Tat"

Der damals siebzehnjährige Attentäter Gavrilo Princip - er war nach Belgrad gekommen, um dort das Gymnasium zu besuchen - hatte sich bei den Freischärlern, die Komidadschi genannt wurden, gemeldet, um gegen die türkischen Erzfeinde zu kämpfen. Doch ein Major, dem er vorgestellt wurde, sagte zu ihm: "Geh heim zu deiner Mutter, Kleiner. Der Krieg ist eine Sache der Männer."

Das habe ihn zu dem Entschluss veranlasst, eine spektakuläre Tat zu vollbringen, die alle in Erstaunen versetzen würde, erzählte der kleine, schwächliche Mittelschüler dem Untersuchungsrichter Pfeffer. Diese Tat war das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand.

Als die Nachricht, Franz Ferdinand werde den Manövern in Bosnien beiwohnen, die offensichtlich zur Einschüchterung Serbiens veranstaltet wurden, in den Zeitungen erschien, nahmen sich Gavrilo Princip und seine Freunde Nedjelko ÇCabrinovi´c und Trifko GrabeÇz vor, ihn zu ermorden. Sie vertrauten sich dem ehemaligen Freischärler Ciganovi´c an, der als Bahnbediensteter ein trauriges Dasein fristete. Sie wussten nicht, dass er dem Geheimbund "Vereinigung oder Tod", auch "Die schwarze Hand" genannt, angehörte. Er versprach, ihnen die nötigen Waffen zu besorgen, was er mit Hilfe seines Freundes, des Freischärlermajors Tankosi´c auch tat. Wie armselig das ganze Unternehmen angelegt war, beweist die Tatsache, dass Major Tankosi´c einen Wechsel ausstellen musste, um die Revolver zu kaufen - Bomben gab es genug, nicht nur in den staatlichen, sondern auch in den privaten Depots der Freischärler. Um sicher zu gehen, dass sie nichts Falsches machten, informierte Major Tankosi´c das Oberhaupt des Geheimbundes Dragutin Dimitrijevi´c, genannt Apis, der Oberst des serbischen Abwehrdienstes war und 1903 an der Ermordung von Aleksandar Obrenovi´c und seiner Gattin Draga MaÇsin mitgewirkt hatte, von dem Vorhaben der jungen Bosnier.

Waffen in Zuckerschachtel

"Da sind ein paar Burschen aus Bosnien, die Franz Ferdinand ermorden wollen", soll er dem Geheimdienstobersten gesagt haben. "Aber sie haben keine Waffen. Soll ich ihnen welche geben?" Und der rundliche, stiernackige Oberst Apis gab seinen Segen dazu. Als jedoch die jungen Attentäter samt Waffen schon längst in Sarajewo waren, bekam der Oberst kalte Füße und schickte einen Boten nach Sarajewo, mit dem Auftrag, die Burschen zurück zu pfeifen. Das Ganze ist bisher nicht restlos geklärt worden. Eine Tatsache ist, dass sich der frühere Lehrer und spätere Journalist Danilo Ili´c, der ideologische und operative Chef des Unternehmens, der die geschmuggelten Waffen - vier Revolver und sechs Bomben - von einer Zwischenstation in einer Zuckerschachtel nach Sarajewo gebracht und weitere drei Attentäter geworben hatte, im letzten Augenblick vehement gegen das Attentat wandte, aus Furcht, eine solche Tat könnte zu diesem Zeitpunkt der slawischen Sache schaden. Doch die "krankhafte Sehnsucht nach dem Attentat" und nach Selbstaufopferung, die Gavilo Princip vor dem Untersuchungsrichter Pfeffer eingestanden hatte, erwies sich als stärker. So nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Den beiden Attentätern ÇCabrinovi´c und Princip - die anderen vier scheuten sich wahrscheinlich unter dem Einfluss von Ili´c, irgendetwas zu unternehmen - standen ebenso dilettantische Beschützer gegenüber. Franz Ferdinands Besuch galt als eine Art Privatbesuch, so dass ihm kein Militärschutz gewährt wurde. Die erste Reaktion des greisenhaften Kaisers Franz Joseph soll eine gewisse Erleichterung gewesen sein, weil seiner Meinung nach der Tod Franz Ferdinands, den er nicht mochte und der nach der Mesalliance mit der tschechischen Gräfin Chotek auf die Thronfolge für seine Kinder verzichten musste, eine geregelte Thronfolge endgültig gelöst habe.

Unannehmbares Ultimatum

Die Reaktion der mit Franz Ferdinand verbundenen Kreise in Wien war ganz anders. Das Ergebnis ihrer Beratungen war ein unannehmbares Ultimatum an die serbische Regierung, das auf 48 Stunden befristet war. Die Unannehmbarkeit dieses ominösen Papiers bestand darin, dass von der serbischen Regierung, die alle übrigen demütigenden Forderungen akzeptiert hatte, verlangt wurde, an der Verfolgung der sich schuldig gemacht habenden serbischen Untertanen durch die österreichischen Gerichtsbehörden mitzuwirken, was einer Aufgabe der staatlichen Souveränität des jungen Staates gleich gekommen wäre. Die in diesem Punkt ausweichende Antwort Serbiens war Anlass zur Kriegserklärung.

Kriegswahn in ganz Europa

Österreich-Ungarn hatte Serbien den Krieg erklärt, um es wegen der Freveltaten einiger seiner Bürger zu bestrafen. Das rief in Russland eine Teilmobilmachung hervor, das sich verpflichtet fühlte, den kleinen slawischen Brüdern im Süden in der Stunde der Not beizustehen oder auch seinem Rivalen Österreich-Ungarn im Spiel der Großmächte eins auszuwischen. Darauf erklärte Deutschland dem östlichen Nachbarn Russland den Krieg, um seinen deutschen Brüdern im Süden zu Hilfe zu eilen, obwohl sich Österreich noch gar nicht im Kriegszustand mit Russland befand.

Der Kriegswahnsinn verbreitete sich rasch und unaufhaltsam über ganz Europa wie eine Seuche, gegen die offenbar kein Kraut gewachsen war. Das Ergebnis waren Millionen Tote sowie die totale Umgestaltung Europas. Vier mächtige Großreiche - das osmanische, russische und deutsche Reich sowie die österreich-ungarische Monarchie - gingen zugrunde, viele neue Staaten entstanden. Einer dieser neuen Staaten war Jugoslawien, das gegen Ende des 20. Jahrhunderts das gleiche Schicksal erlitt wie einst die österreichisch-ungarische Monarchie.

Der Autor, geb. 1923 als Sohn eines serbisches Arztes in Budapest, aufgewachsen im Banat, lebt seit 1943 in Wien.

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