Wie sähe die Welt ohne die Schüsse von Sarajevo aus?

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Der balkanische Wiederholungszwang macht Aichelburgs Buch über den 28. Juni 1914 aktuell.

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Der balkanische Wiederholungszwang macht Aichelburgs Buch über den 28. Juni 1914 aktuell.

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Vor 85 Jahren krachten die Schüsse von Sarajevo. Ohne Sarajevo kein Erster Weltkrieg? Ohne Ersten Weltkrieg kein zweiter, kein Hitler, kein Stalin, keine 60 Millionen Toten? Am Ende auch kein zusammengebrochenes Britisches Empire? Oder doch eine Kette ähnlicher Ereignisse, aber weniger extrem, mit weniger Opfern? Das Zwanzigste Jahrhundert zwar ein Jahrhundert der Krisen, der zum Zerreißen angespannten Situationen, der die Menschheit verunsichernden Übergänge, aber ohne Auschwitz? Das Jahrhundert der technischen Fortschritte kein Jahrhundert der inhumansten Rückschritte, des grauenhaftesten Atavismus?

Wladimir Aichelburg schrieb ein Buch über das Attentat, das nun überarbeitet wieder erschien. Ein Buch der Fakten, das aber nachdenklich macht, ja zum Nachdenken zwingt. Wer es aufmerksam liest, kommt um die Frage, ob das Zwanzigste Jahrhundert ohne die Schüsse eines unwissenden Minderjährigen nicht völlig anders hätte verlaufen können, einfach nicht herum. Er wird aber auch auf die Absurdität gestoßen, daß gerade der Mann, der die Monarchie hätte retten können, sofern sie überhaupt noch zu retten war, ein so schlechtes Image hat - auch in der eigenen Familie.

Dabei kommt man auch um eine weitere, faszinierende Frage nicht herum: Falls die österreichische Monarchie tatsächlich bereits verspielt und verloren war - hätte nicht auch dann Erzherzog Franz Ferdinand als einziger das Format, die Durchschlagskraft und den Weitblick besessen, sie mit mehr oder weniger Würde zu begraben? Hätte der große Unsymathische, alle Aggressionen auf sich ziehend, zum großen Liquidator des Reiches und damit zum Mann eines friedlichen Überganges werden können? Hätte Österreich fertigbringen können, was Britannien nach dem Zweiten Weltkrieg schlecht und recht gelang?

Wladimir Aichelburg leitet das Franz-Ferdinand-Museum im niederösterreichischen Artstetten, im Schloß des Ermordeten. Dort, wo die Särge des Thronfolgers und seiner Frau, nachdem sie beim Übersetzen über die Donau fast ins Wasser gefallen wären, in aller Stille beigesetzt wurden, nachdem ihnen einige Erzherzöge auf dem Westbahnhof die letzte Ehre erwiesen hatten - zum Ärger des Obersthofmeisters Montenuovo. Aichelburg dokumentiert die Tage vor und nach dem Mord in einem Bildband, der so manche fotografische Ikone des Jahrhunderts enthält, anhand zahlreicher Dokumente.

Besondere Aktualität bekommt die Neuauflage durch die Ereignisse im Kosovo. Serbien wurde in den letzten Monaten ein Exempel für den historischen Wiederholungszwang. Ein rückständiges Land, das im Bann gefährlicher Großmachtträume an den Rand auch des eigenen Unterganges gerät, dabei aber auch manchen Irrationalismus seiner Gegner herausfordert und zum Vorschein bringt.

Wenige Wochen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, im Dezember 1918, erschienen zwei Bausachverständige im Auftrag der Prager Regierung im Schloß Konopischt und verlangten von Herzog Max Hohenberg die Baupläne des Schlosses. Da sie den gesuchten schalldichten Raum nicht fanden, ließen sie sich zum Hubertusschlößchen führen. Auch dort keine Spur eines schalldichten Raumes. Unmöglich, in dem Holzbau sicher vor Lauschern ein geheimes Gespräch zu führen.

Die Tschechen waren dem Gerücht vom sogenannten Konopischter Kriegsrat aufgesessen, das während des Ersten Weltkrieges von den Briten lanciert worden war. Demnach sollte Franz Ferdinand zwei Wochen vor seiner Ermordung mit dem deutschen Kaiser Wilhelm, Admiral Tirpitz, Reichskanzler Bethmann-Hollweg und Graf Leopold Berchtold, dem Minister des k.u.k. Hauses und Äußeren, den Krieg gegen England und Frankreich vorbereitet haben. Als Beweis wurde eine Fotografie des "Konopischter Kriegsrates" veröffentlicht. Bloß: der angebliche Bethmann-Hollweg auf dem Foto war in Wirklichkeit der österreichische Graf Wilczek, der angebliche Graf Berchtold war der Graf Adolf Waldstein, nur Admiral Tirpitz hatte am Besuch des deutschen Kaisers beim österreichischen Thronfolger teilgenommen. Ein Beispiel für die Lügenpropaganda im Ersten Weltkrieg.

Das Propagandagerücht hatte schwerwiegende Folgen für die Kinder des Thronfolgers. Die entschädigungslose Enteignung seiner Besitzungen in Konopischt und Chlumetz, die 1921 von der tschechoslowakischen Nationalversammlung mit knapper Mehrheit beschlossen wurde, wurde damit begründet, daß Konopischt Schauplatz des den Weltkrieg auslösenden Komplottes der Dynastien Habsburg und Hohenzollern gewesen sei. Franz Ferdinand hatte Konopischt in schlechtem Zustand gekauft und in 27 Jahren zu einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb und kunsthistorischen Museum ausgebaut.

Es war aber sein Schicksal, hauptsächlich mit Negativem in Verbindung gebracht zu werden. Tatsächlich war er gewiß nicht der liebenswerteste, aber dafür der politisch weitblickendste Habsburger seiner Generation. Die Suche nach dem schalldichten Raum und die Enteignung der Nachkommen waren - mittlerweile bereits ferne - Ausläufer einer der größten weltgeschichtlichen Tragödien. Und eines gigantischen Mißverständnisses. Denn mit dem Thronfolger wurde in Sarajevo genau der Mann ermordet, dessen politisches Programm es war, die Spannungen, die Österreich-Ungarn zu zerreißen drohten, abzubauen und die schwelenden Konflikte zu befrieden. Ein Kritiker der k.u.k. Ist-Zustände. In den Jahren vor Sarajevo soll es ja zu Schreiduellen zwischen ihm und dem alten Kaiser gekommen sein: Sie waren in fast allen Fragen verschiedener Ansicht.

Sein Tod löste den Weltkrieg aus, oder beide - sie wären auch nach seinem Tod vermeidbar gewesen. Die Fehler, die in der Krise nach dem 28. Juni 1914 begangen wurden, hätte er kaum gemacht. Der folgerichtig Denkende mit dem sprunghaften Naturell, der Reizbare, Aufbrausende mit dem vorbildlichen Familienleben, der Unbeherrschte mit den am besten erzogenen Kindern des Kaiserhauses, der künftige oberste Kriegsherr, der fast immer Zivil trug, hätte mit größter Wahrscheinlichkeit eingelenkt.

SARAJEVO - Das Attentat Von Wladimir Aichelburg Verlag Österreich, Wien 1999 112 Seiten, kt., viele Bilder, öS 378,-/e 27,47

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