6607585-1954_29_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Aussage des Grafen Harrach

Werbung
Werbung
Werbung

Das Grauen und das menschlich Ergreifende der mörderischen Szene an der Lateinerbrücke füllt noch den Gerichtssaal, als im Oktober 1914 während des Prozesses gegen die Attentäter die protokollarische Aussage des Grafen Harrach verlesen wird, der als Begleiter des Thronfolgerpaares es, am Trittbrett des Wagens stehend, mit seinem Leibe zu decken versucht hatte und aus nächster Nähe Zeuge des verbrecherischen Geschehens geworden war. Es berichtet über die Verlesung dieser Aussage und ihre Begleitumstände die von Professor Pharos (P. Pun- tigam SJ., Professor am Jesuitengymnasium in Travnik) und Professor Josef Köhler von der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität besorgte deutsche Wiedergabe der stenographischen Aufnahme der Prozeßverhandlungen, erschienen 1918 im Verlag R. von Decker, Berlin:

„Während der Verlesung dieses Protokolls herrscht im ganzen Saale gespannte Aufmerksamkeit. Die Angeklagten lassen, mit Ausnahme von Princip, den Kopf hängen, Cabrilovic zupft nervös an seinem Barte.

Als wir zu der zur Franz-Joseph-Straße führenden Straßenbiegung kamen (fährt der Verleser der protokollarischen Aussage des Grafen Harrach fort), fielen Schüsse, aber von der entgegengesetzen Seite, wo ich (Harrach) nicht stand. Kurze Zeit darauf fiel ihm, dem Erzherzog, die Herzogin auf den Schoß, und er neigte sich zu ihr. Ich stand dicht bei ihnen und hörte, wie er ihr sagte (der Gerichtspräsident Senatspräsident von Curinaldi liest mit zitternder Stimme und mit Tränen in den Augen): „Sopherl, Sopherl, stirb nicht, bleibe am Leben für unsere Kinder!“

(Im Saale herrscht große Ergriffenheit. Der Präsident kann nicht mehr weiterlesen. Er wirft dem Gerichtsrat Naumobicz den Akt zu, der ihn auffängt, aber sich im Augenblick nicht zurechtfinden kann. Einige Augenblicke herrscht im Saale Grabesstille. Auch auf die Angeklagten wirkte dieses Schauspiel erschütternd, ja sogar Princip senkte das Haupt und schloß die Augen.)

Ich (Harrach) wandte mich sogleich zu seiner k. u. k. Hoheit und frug ihn, ob ihn etwas schmerze. Und er antwortete mit schwacher Stimme: „Es ist nichts!“ Dann wiederholte er für sich einige Male mit schwacher und leiser Stimme: „Es ist nichts. Es ist nichts!“ Dann fiel er in Ohnmacht.

Präsident: Ich unterbreche die Sitzung auf fünf Minuten.

Während der Pause tritt der Verteidiger Dr. Feldbauer zu Princip und fragt ihn, ob dieses erschütternde Schauspiel im Saale während der Verlesung des mit dem Grafen Harrach aufgenommenen Protokolls auf ihn keinen Eindruck gemacht habe. Princip antwortet mit einer heftigen Handbewegung: „Glauben Sie, ich sei ein Tier und habe keine Gefühle?“

Die Erforschung der Zusammenhänge des Verbrechens setzte sofort nach der Tat ein. Am 1. Juli wird neben den Hauptattentätern Caprinovic und Princip ein dritter bekannt: Tryphon G r a v e z, der Sohn eines Popen, auch ein übler Geselle, der vom Gymnasium zu Tuzla ausgeschlossen war, weil er seinen Professor geohrfeigt hatte. Am 2. Juli sieht man bereits alle Fäden nach Belgrad laufen.

Dort gab im Topsider-Park den Attentätern Ciganovic, ein kleiner Eisenbahnbeamter, Unterricht im Schießen, er war Konfident der „Schwarzen Hand“ und zugleich ihres Gegners, des Ministerpräsidenten Pasic. Drei weitere Attentäter -werden bekannt. Der Organisator des Mordanschlages in Sarajewo, der junge Lehrer Daniel Ilic und Mehmed- basic, der einzige Mohammedaner unter den Verschwörern. Am 5. Juli wird festgestellt: der serbische Offizier Voja Jankosic, Mitbeteiligter an der Ermordung des letzten Obrenovic (1903), eine Hauptperson in der „Crna ruka“, besorgte für den Anschlag auf den Erzherzog Thronfolger Waffen und Geld. 10. Juli: Schon ist es sicher; die verwendeten Bomben stammen aus dem Armeearsenal Kragujevac.

Am 19. September 1914 beendigte der Untersuchungsrichter Leo Pfeffer in Sarajewo seine Vorarbeit für das Gerichtsverfahren, und am 12. Oktober konnte bereits der große Prozeß gegen die 23 Angeklagten unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Dr. Luigi Curinaldi eröffnet werden.

Die Angeklagten, zumeist Werkzeuge und Exekutivorgane der „Schwarzen Hand“ bewahrten ein unerschütterliches Schweigen über ihre Organisation und deren Anteil an dem Verbrechen; soweit sie redeten, versuchten sie die Nachforschung auf falsche Spuren zu lenken.

- Princip gab sich als Anarchist aus, versuchte alle von den Attentätern wegführenden Spuren zu verwischen und war in seiner Haltung und seinen Aussagen herausfordernd zynisch; zugleich immer darauf bedacht, die Verantwortung für das Verbrechen auf sich selbst zu beschränken, erklärte er: „Ich habe meine Tat nicht bereut, ich fühle mich im Gegenteil befriedigt, daß ich meine langgehegte Absicht durchführen konnte.“

Am 28. Oktober, vier Monate nach dem Verbrechen wurde der Urteilsspruch gefällt. Das Gericht verurteilte wegen Hochverrat und Mitschuld am Mord fünf Angeklagte zum Tode, neun andere zu Freiheitsstrafen von 20 Jahren abwärts. Die Hauptattentäter Princip, Caprinovic und Gravez erhielten wegen ihrer Jugend 20 Jahre Kerker. Sie starben in der Haft. Neun Angeklagte wurden freigesprochen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung