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Mysteriöse Untersuchungsmethoden

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FRAGE: Lassen sich neben dieser in einem Satz zusammenfassen?

nationalen Begeisterung nicht auch noch andere, deutlich von den russischen Anarchisten stammende Gedanken feststellen?

ANTWORT: Der 19jährige Cabri-novic erklärt dem Untersuchungsrichter stolz: „Früher war ich Sozialist, doch diese Leute haben mich enttäuscht. Im Laufe der Zeit ist der Sozialismus ebenso entartet wie das Christentum.“ Bei Ilifi aber fand sich das Porträt des Anarchisten Michael Bakunin, jenes Anarchisten, in dessen Schriften sich der Satz findet: „Die Lust am Zerstören ist eine schöpferische Lust.“

FRAGE: Es scheint also, als ob beide Verschwörer wohl in den Ideen übereinstimmen, nicht aber in den Methoden. Dies hat sich doch sicherlich auch in der politischen Propaganda — vom Schullesebuch ganz abgesehen — deutlich ausgeprägt?

ANTWORT: Während der ältere Ilic von dem Gedankengut russischer Anarchisten geblendet ist, lebt im finsteren Schwärmer Princip ein serbisch-religiöser Nationalgedanke, der seinen Ursprung und sein Ideal im Obilic-Maythos hat. Der Freidenker Princip, Nächte auf dem Friedhof verbringend, träumt allen Ernstes davon, Held serbischer National- und Volksgesänge zu werden, und — man soll es nicht glauben — er wird es auch. Von Dorf zu Dorf ziehende Guslaren vergleichen ihn mit jenem sagenhaften Ritter Obilic, der nach der unglücklichen Schlacht auf dem Amselfeld, am Vidovdan 1389, sich selbst aufopfernd, den türkischen Sultan Murad ermordete.

FRAGE: Nach Abschluß des Prozesses und Verkündung des Urteils wurden neun der Verurteilten nach Österreich gebracht. Sechs von ihnen überlebten die Haft nicht. Drei starben in der Festung Theresien-stadt, drei in der Militärstrafanstalt Möllersdorf bei Wien. Todesursache soll Tuberkulose gewesen sein. War über die Strafzeit — zumindest über die der in Mölleradorf Inhaftierten — irgend etwas herauszufinden?

ANTWORT: In den staatlichen Archiven war darüber nichts zu finden. Ebensowenig im Bundesministerium für Justiz. Ich wurde dann an die Direktion der Strafanstalt Stein verwiesen, wo man mich schließlich auf das Museum des landesgerichtlichen Gefan-genenhausmuseums aufmerksam machte. Dessen Leiter zeigte mir den Faszikel, der über die an der Verschwörung beteiligten Häftlinge angelegt wurde. Und bei allen dreien ist als Befund der ärztlichen Untersuchung im Landesgericht von Sarajewo ausdrücklich festgestellt: keine Tuberkulose. Kaum vier Jahre später sind sie tot. Todesursache: Tuberkulose.

FRAGE: Unsere Leser finden die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen in einer Serie, die in der kommenden Nummer beginnt. Der Schluß aber, zu dem Sie während des Studiums der vergilbten, verstaubten Akten, Zeugenaussagen und Protokollen kamen, läßt sich der

ANTWORT: Sicherlich wird durch die Aufhellung der Hintergründe des Attentats und seiner Folgen auch die Kriegsschuldfrage wieder neu aufgerollt werden. Doch ist dies nicht der Sinn meiner Arbeit. Das Ergebnis läßt sich sehr wohl in einem Satz zusammenfassen: Wir stehen hier vor einem Beweis kaum noch dagewesenen menschlichen Versagens, hat sich doch um die Untersuchung und um den Prozeß kaum jemand gekümmert. Die Verhandlungsführung in dem kleinen, stickig-heißen Gerichtssaal ging unter im Dröhnen der Kanonen auf den Schlachtfeldern im Westen und im Osten. Und ich wage zu behaupten, daß ein ähnliches Versagen heute mehr denn je die ganze Menschheit zu vernichten in der Lage wäre.

FRAGE: Sind Sie der Ansicht, den großen Fragenkreis „Sarajewo, 28. Juni 1914“ bis auf den Grund ausgelotet zu haben?

ANTWORT: Von einer Auslotung der Materie kann bis jetzt keine Rede sein, ich bin nur ein wenig in das Dickicht eingedrungen. Was ich bis jetzt ans Licht der Öffentlichkeit förderte, und sich belegen läßt, bringe ich in dieser Artikelserie. Meine Methode ist eine bewußte Provokation, die auf Widerspruch stoßen muß. Ich habe mich zu ihr entschlossen, weil ich sie für die einzige Möglichkeit halte, die Aufmerksamkeit zuständiger Kreise auf gewisse historische Fakten zu lenken, deren Erforschung zu sehr vernachlässigt wurde. Schließlich halte ich ein Thema, das sich mit dem „Anlaß“ zum ersten Weltkrieg befaßt, für wichtiger als hunderte andere.

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