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Der Zins - Angelpunkt der sozialen Frage?

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Um einem oft ausgesprochenen Mißverständnis zu begegnen, hier ein paar kurze Worte über die in der „Furche“ vom 22. September wieder einmal berührte Formulierung Vogelsangs: „Der Zins bei Produktivdarlehen und unter dem Vorwande des Lucrum cessans (entgehenden Gewinnes)... hat die ganze Volkswirtschaft vergiftet, die soziale Moral so zerstört, daß nur bei einzelnen noch eine Erinnerung daran geblieben ist. Und an dieser Sünde muß unsere Gesellschaft zugrunde gehen. Der Zins mitsamt den externen Titeln, soweit sie einen Gewinn begründen sollen, das ist der Angelpunkt der ganzen sozialen Frage. Wir werden die heutige Praxis nicht ändern, das können nur die großen Ereignisse, die nicht ausbleiben werden“ — und die wir seit 1917 miterleben. Denn der moderne Kommunismus, der Kollektivkapitalismus, ist theoretisch wie praktisch Vollendung des modernen (Privat-) Kapitalismus, der Zinswirtschaft, heute die eminente große Weltgefahr.

Grundlegende Voraussetzungen für richtiges Verständnis der Zinsfrage, des modernen Kapitalismus wie der Formulierung Vogelsangs sind erstens wesentliche Unterscheidung zwischen echtem Zins, einem Ueberwertgewinn, und S c h e i n z i,n s, irgendwelchen Leistungen, Zahlungen, mögen sie auch in der (unwesentlichen) äußeren Gestalt von Prozenten der Stammwertsumme geschehen, die aber nur der Herstellung von Wertgleichheit (nicht der Ziffer, sondern der Kaufkraft nach) von Leistung und Gegenleistung im entgeltlichen Wirtschaftsverkehr dienen; zweitens die Erkenntnis, daß der Wesensgrund der traditionellen Zinsverwerfung nicht irgendwelche (römisch-rechtliche oder sonstige) formalistische Formulierung, sondern das allgemeine naturrechtliche Aequi-valenzprinzip ist, dem zufolge im entgeltlichen Wirtschaftsverkehr (Kauf, Tausch, Leihe, Lohnvertrag usw.) Leistung und Gegenleistung immer (an Tauschwert, Kaufkraft) gleichwertig sein müssen, um gerecht zu sein.

Nie hat die traditionelle naturrechtliche und religiös-moralische oder kirchliche Verwerfung des (äquivalenzverletzendeir echten) Zinses irgendwelche den Gleich wert herstellende Leistung (z. B. Scheinzins) betroffen, sondern immer nur den echten Zins, Aneignung un-entgoltenen Ueberwertes im entgeltlichen Wirtschaftsverkehr, durch die der Besitzende den Nichtbesitzenden, der, der hat, den, der nicht hat, auf Grund seines Besitztitels, seines Habens ausbeutet, ihm unter dem Schein eines Rechtsgeschäftes einen Teil seiner Arbeitsfrüchte un-entgolten abfordert. Echter Zins ist profitable Bewirtschaftung des nichtbesitzenden Menschen als einer (durch seine Arbeit) fruchtbaren Sache durch einen besitzenden Menschen, wie schon Rudolf Meyer gut zeigte, entstanden aus der Sklaverei: Echter Zins ist Sklaventribut der Arbeit an den (nichtarbeitenden) Kapitalisten.

Dies gilt für das ursprüngliche allgemeinmenschliche, naturrechtliche Abhandensein echten Zinses wie für das religiös-moralische und kirchliche Zinsverbot von Moses bis zum 15. allgemeinen Konzil von Vienne (1311/12: „Sollte in der Tat jemand in den Irrtum verfallen, daß er hartnäckig zu behaupten wage, Zinsen zu nehmen [exercere usuras] s e i nicht Sünde, so bestimmen wir, daß er als Häretiker zu bestrafen sei.“), bis zu Benedikts XIV. Constitutio Vix pervenit (1745) und Leos XIII. Verdammung der „Usura vorax“, des gefräßigen Zinses in Rerum novarum (1891). Man übersehe auch nicht die wichtige terminologische Tatsache, daß das Alt- und klassische Latein wie das Spät- und Kirchenlatein für (echten) Zins und Wucher nur den einen Ausdruck Usura kennen, der somit auch synonym und gleichbedeutend mit Zins oder Wucher zu übersetzen ist. Unsere moderne Unterscheidung zwischen vermeintlich sittlich zulässigem (echtem) Zins und sittlich verdammlichem Wucher ist dem lateinischen Denken und Sprechen fremd. Die kirchliche Gesetzgebung belegte den Usurarius oder Zinsnehmer als Wucherer mit Exkommunikation und Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses. Usura, echter Zins, ist auch heute wie zu allen Zeiten von Naturrecht wie positiv-kirchlicher Moral als verdammter Wucher und Sünde verworfen. In diesem kurzen Aufsatz ist es unmöglich, darzulegen, wieso die katholische Moral und Bußpraxis innerhalb des herrschenden modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems präsumieren kann, ja muß, daß der heute übliche Geldzins für die meisten Teilnehmer am kirchlichen Gnadenleben nicht echter, sondern Scheinzins sei und daher nicht das Verbrechen der Usura begründe. (Veränderungen in der Natur des Geldes, wie manche naiv annehmen wollen, sind daran unbeteiligt.)

Etwas ganz anderes ist die Frage, ob der (echte) Zins dem modernen Kapitalismus zugrunde liege und Angelpunkt der sozialen Frage sei. An dieser Tatsache und an ihrer, die sogenannte christlich-abendländische Kultur mit dem Sieg des Kommunismus bedrohenden Gefährlichkeit kann heute wohl nicht mehr gezweifelt werden. Es war für die katholische Welt und weit über sie hinaus verhängnisvoll, daß diese Erkenntnis der Vogelsang-Schule seit den neunziger Jahren von einer gegenteiligen Anpassung an den in sein Spätstadium übergehenden Kapitalismus stark in den Hintergrund gedrängt wurde — als ob wir Katholiken es eilig gehabt hätten, geschwind an diesem unseligen Wirtschaftssystem noch rechtzeitig mitschuldig zu werden und an seinem Untergang teilzunehmen.

Dieses tragische Verlassen der alten katholisch-sozialen Haltung unter Berufung auf den kapitalistischen Wirtschaftsaufschwung erfuhr unerwartet Beleuchtung durch den bis dahin größten und erfolgreichsten amerikanischen Industriellen ganz im Sinne der Vogelsang-Schule: durch Henry Ford in seinem Buch „Mein Leben und Werk“ (1923). Offenbar ohne Ahnung von der katholisch-sozialen Tradition stellt dieser erstrangige Wirtschaftsfachmann sich grundsätzlich mit beiden Füßen auf ihren naturrechtlichen Boden. Er verwirft darin grundsätzlich das kapitalistische Prinzip des arbeitslosen Gewinnes. Die einzige solide Art eines Geschäftes ist ihm die Dienstleistung an der Allgemeinheit. Seine Aufgabe sei daher, beste Ware zu niedrigst möglichem Preis und höchstmöglichem Arbeitslohn unter Ablehnung des kapitalistischen Gewinn- und Zinsprinzips auf den Markt zu bringen. Aktionäre, die bloß Aktien besitzen und aus ihnen Gewinn ziehen wollten, nahm er grundsätzlich in seine Gesellschaft nicht auf, sondern nur mitarbeitende Aktionäre, d. h. also echte Arbeitsgenossen. Ganz im Sinne des kanonischen Zinsverbotes erklärt er, nie verstanden zu haben, wieso man für Geld 6 Prozent oder 5 Prozent oder 4 Prozent Zinsen beanspruchen könne. Geld an sich sei überhaupt nichts wert, da es für sich keinen Wert zu erzeugen vermöge. Wer von seinem Wertvermögen Ertrag haben wolle, der schaffe und betreibe ein gesundes Linternehmen. Damit schaffe er für die Allgemeinheit nützliche Dinge, Arbeitsgelegenheit und Verdienst für seine Mitarbeiter und werde dann auch durch einen wirtschaftlich und sittlich berechtigten Ertrag belohnt werden. So erkannte Henry Ford den Gewinn ohne Begründung in gleichwertiger Leistung als wirtschaftlich und gesellschaftlich verwerflich und erfaßte voll den Sinn des kanonischen Zinsverbotes, ohne es überhaupt zu kennen: Nur Arbeit schafft Wert und berechtigt zu Ertrag, den konträren Gegensatz zum kapitalistischen Gewinnprinzip. Insofern dieses wirtschafts- und gesellschaftswidrig ist, mußte es — nach Vogelsangs Formulierung — „Angelpunkt der (modernen) sozialen Frage“ werden, weil es die soziale Zersetzung in Kapitalisten- und Proletarierklasse begründete, die sozialwirtschaftliche Wendung in diesem „Angelpunkt“ die Lösung dieser Frage anbahnte.

Ford, der sein Unternehmen aus dem Nichts zu einem Vermögen von hunderten Millionen Dollar emporführte, war — insofern er den von ihm aufgestellten Grundsätzen gemäß arbeitete — nicht Kapitalist, sondern der erste Arbeiter in seinem Riesenbetrieb. Ja, Ford setzte, inmitten des puritanisch-hochkapitalistischen Ge-v/innwirtschaftssystems, gegen den wütenden Widerstand der kapitalistischen Industrieführer sein heute in Nordamerika allgemein angenommenes antikapitalistisches Prinzip der Kaufkraftsteigerung durch.

Mit Recht wurde daher in der „Furche“ gesagt, daß das Vogelsang-Programm „gottlob wieder aktuell geworden ist“. Dies gilt auch für seinen „Angelpunkt“. Nicht als ob verkannt werden sollte, wie die Zinsfrage von anderen, seit Vogelsangs Zeit neu aufgetauchten sozialen Fragen an aktueller Bedeutung zum Teil überholt wurde. Wohl aber in dem Sinn, daß sie das kapitalistische Prinzip, das dem Kommunismus seine Riesenkraft verleiht, in seinem Kern trifft und in diesem Sinn gerade heute, in der Zeit des niedergehenden Spätkapitalismus und der immer drohender aufsteigenden staatskapitalistisch-kommunistischen Gefahr völliger Versklavung, an grundsätzlicher Bedeutung sogar gewonnen hat. Alle weitschauenden Geister sehen diese Gefahr anwachsen und erkennen die ungeahnte Tragweite der grundsätzlichen Ueberwindung des kapitalistischen Prinzips für ihre Bannung. Nur wenn der echte Zins grundsätzlich |ntthront und die Arbeit, wie es vor dem modernen Kapitalismus war, wieder König wird, ist der Uebergang des liberalen Privatkapitalismus in den noch viel schrecklicheren Kollektivkapitalismus des kommunistischen Skla“enstaates zu vermeiden. Erst dann tritt die Reife für den Untergang des ganzen modernen Kapitalismus in seinen beiden Varianten ein, der ia mit dem Untergang der Moderne kommen muß, der sich seit 1914 unaufhaltsam vollzieht.

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