6628051-1956_21_04.jpg
Digital In Arbeit

Freiheit und Ordnung

Werbung
Werbung
Werbung

Die 25 Jahre, die seit dem Erscheinen der Sozialenzyklika Pius XI. verflossen sind, haben uns mit ihrer gewaltigen geschichtlichen Dynamik vielfach vor ganz neue Situationen gestellt. Es ist berechtigt, heute die Frage zu stellen, was, Quadagesimo Anno unserer Zeit und ihren Nöten zu sagen hat. Der Zerfall von Formen, das Fraglichwerden von Inhalten und der Zusammenbruch des Fortschrittglaubens sind die Situation, aus der wir heute zu handeln und zu entscheiden berufen sind, und das neue geistige und strukturelle Werden, das wir ahnen, das sich aber unseren Blicken und weithin auch unserem Wollen entzieht, läßt uns ausschauen nach jenen Grundsätzen und Grundformen des Lebens, die in allem Wandel der Geschichte erhalten bleiben müssen, soll die Lebensordnung eine menschliche werden oder bleiben.

So scheint die Atmosphäre unseres geistigen Lebens empfänglicher geworden zu sein für die Gedanken und die Forderungen der Quadra-gesimo Anno. Sie ist vor allem deshalb empfänglicher geworden, weil die Enzyklika nicht nur eine Diagnose der Zeit vom sozialen Raum her gibt, sondern die menschliche Situation als das vor sich sieht was sie tatsächlich ist, als Situation . der Entscheidung, die Jahrhunderte bestimmen kann. Die klaren Grundsätze der Ordnung des sozialwirtschaftlichen Lebens könnteri uns aus dem Zustand ziellos hektischer Anpassung herausführen. Gleichzeitig sucht die Enzyklika die Ansätze zur Verwirklichung ihrer entscheidenden Ordnungsgedanken aufzuweisen. Es ist ein Grundsatz christlichen Denkens über soziale Fragen, wie es auch ein Grundsatz der christlichen Naturrechtsidee ist, daß trotz aller Verirrungen und geschichtlichen Wandlungen das der menschlichen Natur Gemäße, das Gesunde, zu jeder Zeit entwickelbar und entwicklungsfähig vorhanden ist, so daß man daran anknüpfen kann, um eine menschliche Ordnung des Lebens anzustreben. Man muß nur von dem rechten Verständnis des ganzen Menschen ausgehen, von seiner Personalität und seiner Sozialität, man muß nur die Wirklichkeit ungeschmälert beachten, um das Menschengemäße zu erkennen und in der geschichtlichen Wirklichkeit aufzufinden. In der Realität des Lebens herrscht ja niemals eine Tendenz allein. Auch heute gibt es neben der vordringlichen Tendenz zum Kollektivismus, zur Zerstörung aller personalen Ordnungen Ansätze zur Gesundung, zur Rehumanisierung und Repersonalisierung der sozialen Beziehungen. Freilich werden wir die ungeheuren Schwierigkeiten, die im Geistigen wie im Strukturellen liegen, nicht übersehen dürfen. Im Geistigen, weil unser soziales Denken noch stark technizistisch geprägt ist, was sich theoretisch wie praktisch darin äußert, daß der Mensch in der sozialen Ordnung nur als Funktion sachgesetzlicher Zusammenhänge gesehen wird, in welchen sogar ethische Forderungen aus der sachlichen Effizienz abgeleitet werden. Im Strukturellen, weil sich die Tendenz zur Auflösung und zum Totalitarismus in gefestigten Institutionen auslebt, während die Tendenz zur Gesundung und Rehumanisierung nur punktuell und gleichsam systemwidrig sich durchzusetzen vermag.

Es ist ohne Zweifel höchst bedeutungsvoll, was die Enzyklika von dieser doppelten Sicht, vom Geistigen und vom Institutionellen her, zu jenem Grundproblem zu sagen hat, das für uns die entscheidende Aeußerungsform der sozialen Frage ist, zum Problem der konstitutiven Bedrohung der Freiheit. Daß die Wurzel dieser Bedrohung in der Geistigkeit des Individualismus liegt, wird von Pius XI. nachdrücklich betont. Sie hat jenes nihilistische Mißverständnis der Freiheit mit sich gebracht, das aus dem Prinzip einer Ordnung aus personaler Freiheit in die Katastrophe endloser Revolutionen füh- • ren mußte. Denn Freiheit kann nur bestehen, wenn sie auf Ordnung aufruht und Ordnung verwirklicht — eine doppelte Ordnung: die sittliche Ordnung und die ihr adäquate institutio-

Aus einem Vortrag, den der Verfasser kürzlich in der Katholischen A' idemie zu Wien hielt. nelle Ordnung, die jeweils aus den geschichtlichen Voraussetzungen erwachsen muß. So wird die Zukunftsaufgabe eine doppelte: Sittliche Erneuerung und Reform der Institutionen.

Es ist verständlich, daß die Mißachtung dieser grundlegenden Wahrheit der menschlichen Existenz Freiheit und Ordnung zu unversöhnlichen Gegensätzen machen mußte. Dem Nihilismus einer totalen Freiheit gesellt sich der Nihilismus der totalitären Ordnung bei. Ebensowenig wie sich die Freiheit der Ordnung verpflichtet fühlt, fühlt sich die Ordnungsmacht dem Prinzip der Person und der Freiheit verpflichtet. Freiheit ist nun bestenfalls eine Lücke im Ordnungssystem, die man in der Theorie mit Psychologismen auszufüllen sucht. So wird der natürliche Drang zur Ordnung gleichzeitig zur institutionellen Bedrohung der Freiheit.

Die moderne Gesellschaft zeigt heute hauptsächlich drei Positionen der Freiheitsbedrohung: Die Proletarisierung — die erste partielle Freiheitsberaubung; die Machtgruppenbildung — die Tendenz der Interessegruppen zur Beherrschung der Gesellschaft; die totale Freiheitsberaubung. durch das Ordnungsmonopol des Staates. Die Enzyklika behandelt alle drei dieser Schritte: Proletarisierung, „Vermachtung“ und Staatsomnipotenz.

Das große praktische Problem sozialer Politik äußert sich demzufolge' heute als Frage nach der Wiedervereinigung der beiden Spannungs-roomente von Freiheit und Ordnung in den Institutionen und Organisationen und den Rechtsgestalten des sozialen Lebens. Denn Repersonalisierung der Ordnungen kann nur heißen deren Anpassung an die Natur des Menschen, die zugleich personal und sozial ist, frei in der Ordnung, geordnet in Freiheit. Die Institutionen des sozialen Lebens sollen die Möglichkeit gewähren, die Ordnung durch die Freiheit und die Freiheit in der Ordnung zu wahren. Diese Ueberlegung sei an die Fülle der Gedanken, die Ouadragesimo Anno zur sozialen Problematik der modernen Gesellschaft bringt, herangetragen.

Drei entscheidende Institutionen sind es, die Pius XI. im Hinblick auf die soziale Ordnungsproblematik behandelt: das Eigentum, die berufsständische Ordnung und den S't a a t. Es ist hier nicht die Stelle, auf das Eigentumsproblem einzugehen. Wichtig ist es aber, hervorzuheben, daß die Enzyklika dem Eigentum zwei untrennbare Funktionen zuschreibt: Die individuale und die soziale Funktion — Einheit von Freiheit und Ordnung! Während das Prinzip des personalen Eigentums als unantastbar hingestellt wird, werden die konkreten Eigentumsordnungen nach Maßgabe der Erfordernisse des Gemeinwohls als wandelbar bezeichnet. Besondere Bedeutung aber hat nach Ansicht der Enzyklika das Eigentum im Hinblick auf die Ueberwindung der Proletariat. In der Eigentumsbildung soll die Entproletarisierung vor allem im Hinblick auf die Entfaltung der Familie ihre Vollendung finden. Hier muß auch der Gedanke der Enzykljka hinzugefügt werden, daß es empfehlenswert wäre, in den Arbeitsvertrag nach Möglichkeit Elemente eines Gesellschaftsvertrages einzubauen. „Arbeiter und Angestellte gelangen auf diese Weise zu Mitbesitz und Mitverwaltung oder zu irgendeiner Art von Gewinnbeteiligung.“ Wir müssen uns heute folgendes überlegen: Wenn wir eine freie Gesellschaft erstreben, müssen wir Situationen, in denen personale Freiheit nicht aktualisiert werden kann, nach Möglichkeit beseitigen. Wenn wir das Prinzip des personalen Eigentums vertreten, müssen wir die Situationen der Eigentumslosigkeit nach Möglichkeit überwinden. Wenn wir das Prinzip der verantwortlichen Initiative aufstellen, müssen wir Situationen, in denen keine personale Initiative aktualisiert werden kann, nach Möglichkeit überwinden.

Während uns derartige Gedanken heute nicht mehr fremd sind, stößt das berufsständische Ordnungsprinzip auf die eigentümlichsten Mißverständnisse und Gegnerschaften, nicht nur seitens sozialer Organisationen, die mit ihm nicht ihre Existenz, wohl aber ihr Streben nach dem Ordnungsmonopol aufgeben müßten, sondern auch seitens derer, die ehrlich eine freie Gesellschaft anstreben. Dennoch ist das berufsständische Ordnungsprinzip in der Wirtschaftsgesellschaft ein Garant der Freiheit. Einige Gedanken seien im Anschluß an die Enzyklika dazu geäußert. Zunächst muß festgehalten werden, daß die berufsständische Ordnung weit mehr als eine zweckmäßige Organisationstechnik ist. Sie entspricht einem in der Natur des Menschen und der Gesellschaft gründenden Ordnungsprinzip. Die Aufforderung der Enzyklika zum Aufbau einer berufsständischen Ordnung bedeutet also keineswegs den Versuch, bestehende Zustände zu verewigen. Das zu glauben hieße sie völlig mißverstehen. Es ist ja gerade der bestehende Zustand, den die Enzyklika kritisiert. Darum können auch gewisse dynamische Durchbrüche durch äußerlich berufsständische Formen geschichtlich durchaus sinnvoll sein, wenn sie zu einer gerechteren Ordnung führen. Von hier aus wäre die Stellung der Quadragesimo Anno zu den Interessenverbänden zu verstehen, ja sogar zur geschichtlichen Tatsache des Klassenkampfes, der unter besonderen Voraussetzungen als berechtigte soziale Notwehr gelten kann. Er darf freilich nicht zum Prinzip werden und nicht zur Grundlage des Verständnisses der Geschichte.

Als Ordnungsprinzip gründet der berufsständische Gedanke auf der Tatsache, daß gemeinsame Ziele und Wege der Arbeit eine natürliche vergesellschaftende Kraft darstellen. Ihre Verwirklichung aber bedeutet wieder — nun auf höherer gesellschaftlicher Stufe — die Vereinigung von Freiheit und Ordnung. Denn berufsständische Körperschaften hätten sowohl die berechtigten Interessen ihrer Glieder wahrzunehmen als auch in eigenständiger sozialer Ordnung die Angelegenheiten der gemeinsamen sozialen Funktion zu besorgen, beides im Dienste des Gemeinwohles. Auch dieser Gedanke ist der wirtschaftlichen Praxis der Gegenwart — freilich noch nicht ihrem theoretischen Selbstverständnis — durchaus geläufig, wenn wir auch kaum mehr als ein Hintasten in kleineren Bereichen feststellen können und wohl hier und da auch institutionelle Ansätze der Sozialpolitik. Der entscheidende Unterschied gegenüber der gegenwärtigen Ordnung wäre der: daß die dominierenden Gruppenbildungen in eine konstitutive und konkret faßbare Beziehung zum Gemeinwohl gebracht würden, daß die Ordnung in allen Stufen von der Fülle des Personalen her verlebendigt und dadurch jene Repersonalisierung der Ordnungen angebahnt würde, die Pius XII. in seiner Weihnachtsansprache 1952 forderte. Zugleich ist damit das moderne Problem der Funktionalisierung des Menschen angefaßt, das die stärkste Tendenz zum Totalitarismus in sich birgt. Schließlich kämen die gesellschaftlichen Institutionen als Mitträger des Gemeinwohls in eine klare Beziehung zu dessen oberstem Träger, dem Staat.

Im heutigen Staat stehen wir der dritten Foim der Freiheitsbedrohung gegenüber. Sie entspringt der Tatsache, daß die natürliche Dynamik zur Ordnung von der modernen Gesellschaft selbst nicht m erträgliche Formen gebracht wurde. Es war die Ordnungsimpotenz der Gesellschaft, die zur Ordnungsomnipotenz des Staates führen mußte. Für die Enzyklika ist der Staat verpflichtender und verpflichteter Träger der obersten Ordnungsmacht, wie ihn keine soziale Einheit entbehren kann. Aber: der Staat ist nicht der Begründer, sondern der Wahrer der Ordnung. Ordnung ist begründet in der Natur des Menschen. Der Staat schafft nicht das kulturelle Leben, er ermöglicht nur dessen Entfaltung durch Sicherung der Ordnung. Den institutionellen Ausdruck finden diese Gedanken im Prinzip der Subsidiarität. Wir können es das Prinzip des Lebendigen nennen. Was seine Ordnung in kleinerer Gemeinschaft finden kann, soll nicht von der größeren besorgt werden, aber die kleinere soll sich auch nicht anmaßen, die umfassende Ordnung entbehren oder für sich beanspruchen zu können. So ist das Prinzip der Subsidiarität nicht, bloß einschränkend, sondern weiß um die Aufgaben, die der Staat zu erfüllen hat, damit das Leben der engeren Gemeinschaften sich überhaupt zu entfalten vermag.

Hinsichtlich der Verwirklichung dieses Gedankens ist Quadragesimo Anno sehr geschichrs-bewußt und realistisch. Sie ist nirgends voreilig mit Prinzipien bei der Hand. Sie weiß wohl, daß es Aufgaben gibt, die heute der Staat vollführen muß, während sie früher durchaus Sache . kleinerer Gemeinschaften sein konnten. Ueber-dies darf man die Gedanken der Enzyklika nicht vom Bild des Staates trennen, das sie als das naturgemäße entwirft. Denn mit der Kritik an der modernen Gesellschaft ist auch die Kritik der Enzyklika am modernen Staat und an seiner Tendenz zur Monopolisierung der Ordnung gegeben. Wenn wir heute Kräfte im sozialen Leben wirksam und Gedanken an der Arbeit sehen, die es bestätigen, daß das christliche Denken über die soziale Ordnung wahrhaft den Spuren natürlichen Menschentums folgt, so kann uns das sicher mit einem gesunden Optimismus erfüllen. Gleichzeitig aber muß uns das Studium der Enzyklika vor einer anderen Einseitigkeit bewahren. Es genügt nicht, auf die äußeren Ordnungsformen zu sehen. Die beiden Elemente der sozialen Neuordnung, die die Enzyklika verkündet hat, können nur gemeinsam vor dem Einbruch des Totalitarismus und allen seinen Folgen bewahren: Die Reform der Institutionen und die sittliche Erneuerung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung