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Von der Wirklichkeit eingeholt

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Alexander Mitscherlich, Träger des Friedenspreises 1969, gehört zu jenen Interpreten, die in der Nachfolge der großen Humanisten, sich mit den Fragen des menschlichen Individuums in der Bedrohung, die es auf Grund verschiedener Fehlentwicklungen (historischer und sozialer Gegebenheiten) erfährt, befassen. Der Titel des Buches „Versuch, die Welt besser zu bestehen“, wäre ein passendes Leitmotiv für alle Zweige der Wissenschaft;.die in der Verwicklung und'Verknüpfung mit ökonomischen und technologischen Zwängen dieses Auftrages längst verlustig gegangen sind.

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Alexander Mitscherlich, Träger des Friedenspreises 1969, gehört zu jenen Interpreten, die in der Nachfolge der großen Humanisten, sich mit den Fragen des menschlichen Individuums in der Bedrohung, die es auf Grund verschiedener Fehlentwicklungen (historischer und sozialer Gegebenheiten) erfährt, befassen. Der Titel des Buches „Versuch, die Welt besser zu bestehen“, wäre ein passendes Leitmotiv für alle Zweige der Wissenschaft;.die in der Verwicklung und'Verknüpfung mit ökonomischen und technologischen Zwängen dieses Auftrages längst verlustig gegangen sind.

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Für Mitscherlich ist die Psychoanalyse mehr als nur ein Aspekt der Wissenschaft vom Menschen, Mitscherlich sieht in dem Phänomen „Psychoanalyse“ nicht zuletzt eine historische Kraft, wobei er sich nicht scheut, die Neuinterpretatdon des Menschen durch Freud und die sich daraus ergebenden Nachwirkungen mit der Französischen Revolution und ihrer Bedeutung für die Gesell-schäftsstrukturen im mitteleuropäischen Raum zu vergleichen. Er sieht Freud am Beginn des spätbürgerlichen Zeitalters, am Vorabend der Zerstörung der bürgerlichen Kultur, die in der totalen Entfesselung des Dämonischen, das im Kollektiv als eine Art Krankheit der Gesellschaft schlummert, mündete. Mitscherlichs Behauptung aber, daß die Theorien Freuds, wenn sie zeitgerecht verstanden und angenommen worden wären, eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung des Nationalsozialismus hätten spielen können, ist wahrscheinlich nur theoretisch richtig, historisch aber falsch. Freuds Vorstellung vom Menschen konnte eben erst nach dem gründlichen Zusammenbruch aller Ideale, nach dem endgültig ausgeträumten Traum vom Wahren, Guten und Schönen auf fruchtbaren Boden fallen. Das scheußliche Geschehen während des zweiten Weltkrieges überholte schließlich spielend alle noch so vorsichtig formulierten Thesen Freuds über die Bedeutung der Triebkräfte im Menschen.

Welche Möglichkeiten sieht nunMit-sicherlich für die Psychoanalyse in der Gegenwart? Hier kann man dem Autor ein gewisses Sendungsbewußtsein nicht absprechen. Er sieht in der Psychoanalyse jedenfalls mehr als eine Wissenschaft vom Menschen, die sich mit der Klärung beziehungsweise Heilung von Neurosen beschäftigt. Er fordert die Anwendung der Psychoanalyse grundsätzlich auch bei organischen Krankheiten, eine These die sicher mehr Aufmerksamkeit von Seiten der Stellen, die die Mittel für die Forschung vergeben, verdient. Hier ist noch einiges aufzuholen und insofern kann man Mitscherlichs Klagen, die Psychoanalyse habe sich als ernst zu nehmende Wissenschaft noch immer nicht durchgesetzt, Glauben schenken. Weiters sieht Mitscherlich in der Psychoanalyse eine der letzten Wissenschaften, die in einer Zeit der Verdinglichung, der Konzentration auf Sachbereiche, direkt vom Menschen ausgeht. In der Selbstbesinnung allein liege die Rettung, nicht nur vor Bedrohungen von außen (wie sie die atomare Gefahr darstellt), sondern auch vor Bedrohung von innen. In den durch eine konsequent angewandte Methodik der Psychoanalyse verstärkten Ichkräften sieht Mitscherlich die Chance, die Ohnmacht des einzelnen, die sich mit der Manipulierbarkeit aller Bereiche des Lebens ergibt, zu bewältigen. Damit ein Übergreifen neuerlicher emotionaler Aggressionen deren Anteil im Zusammenleben der Menschen nicht mehr bestritten wird, zu verhindern.

Trotzdem hat der Autor bei allem Sendungsbewußtsein eines nicht außer Acht gelassen. Seit Freud seine Thesen aufstellte, hat sich die Welt in einem unglaublichen Tempo weiter verändert. Wir leben in einer Zeit der Enttabuisierung nicht nur des Geschlechtlichen, sondern aller Bereiche des menschlichen Lebens. Es wäre also im Moment Aufgabe der Psychoanalyse, wie Mitscherlich treffend formuliert, „die Konflikte die dem Individuum aus dem Abbau von Verboten erwachsen“, zu erforschen.

Denn zweifellos ist die Zeit für Neurosen, wie die steigende Selbstmordrate beweist, erst angebrochen. Die totale Entwertung aller Werte läßt die Sinnfrage des Daseins, die niemals zur Gänze verwischt oder verdrängt werden kann, in neuem Licht und drängender wieder erstehen.

Hier aber scheint es fast so, als würde der Krankheitserreger selbst den Ärztekittel anziehen und sich an der großen Zahl seiner zu behandelnden Patienten erfreuen. Im großen und ganzen scheint es im

Moment wichtig, Freud noch einmal zu entdecken, ihn vor Übertreibungen und Fehlinterpretationen abzuschirmen und zugleich etwas von der Bescheidenheit im Vertrauen auf die eigene Erkenntnis wieder zu gewinnen, die etwa ein Ausspruch Freuds am Ende seines Lebens dokumentiert: „Nach jahrzehntelangen Bemühungen erhebt sich das Problem für uns unangetastet wie am Anfang.“

Den Menschen unter dem Aspekt der Wahrheit zu sehen, dies scheint dem objektiven Betrachter einer der größten Verdienste der Psychoanalyse. Ihn zu heilen, ist ein frommer Wunsch, bringt aber die Wissenschaft in die Nähe der Ideologien, die dem Menschen bis jetzt noch nie genützt haben.

VERSUCH, DIE WELT BESSER ZU BESTEHEN. Fünf Plädoyers in Sachen Psychoanalyse von Alexander Mitscherlich, Bibliothek Suhr-kamp, 173 Seiten, DM 6.80.

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