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Wer ist der Täter?

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Seit Jahren arbeitet in Österreich eine Kommission am Entwurf eines neuen Strafgesetzes, und es ist zu erwarten, daß die Kommission bis zum Ende des Jahres den Entwurf in erster Lesung fertigstellen wird.

Da in Österreich mit der Neufassung des Strafrechtes die Kodifikation des gesamten Rechtes eingeleitet werden soll, müssen die Grundgedanken und Tendenzen, die dem Entwurf zugrunde gelegt werden, besonders gewissenhaft und kritisch überprüft werden, zumal nach ihnen auch die Grundnormen der übrigen Rechtsgebiete ausgerichtet werden. Vor allem muß der Mittelpunkt jeder Rechtsordnung, der Mensch, um dessehtwillen jede Rechtsordnung geschaffen wird und an den sich die Sollvorschriften des Strafrechtes richten, klar und unzweideutig feststehen. Um den Kern der Frage: Was hält der Gesetzgeber vom Menschen?, kreisen alle anderen Streitfragen als zweitrangig.

Welches Menschenbild liegt nun dem Strafrechtsentwurf zugrunde? Natürlich enthält der Entwurf selber diesbezüglich keine Bestimmungen, und seine Stellung hierzu ist auch nicht völlig eindeutig und vielfach unkonsequent. Jedoch geht aus den Äußerungen namhafter Vertreter der Strafrechtsreform und aus dem Grundgedanken des Entwurfes hervor, daß dieser im wesentlichen auf der Lehrmeinung der soziologischen Schulen des Franz List aus der Mitte de9 vergangenen Jahrhunderts basiert, also auf einer Auffassung, die mehr als hundert Jahre zurückliegt, jedoch nach dem damaligen Sts vor allem der Naturwissenschaften, aber aucli der übrigen Geisteswissenschaften, als umwälzend und als für damals müdem angesprochen werden muß. Diese Lehrmeinung ist jedoch „ein Kind“ des Zeitalters des Materialismus, des Naturalismus und Relativismus. Man war damals der Meinung, daß sich auch das Leben des Menschen in rein mechanischem Ablauf bewegt und der Mensch daher lediglich ein Zufallsprodukt eines naturgesetzlichen Ablaufes, bedingt durch die Anlage und die Umweltseinflüsse, ist, wobei die Freiheit seines Willens geleugnet wird.

Eine ähnliche Auffassung finden wir auch im materialistischen Menschenbild des Karl Marx, nach dem die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bedingt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Der ganze ideologische Überbau und vorab das Recht wird nach Karl Marx durch die materiellen Produk-tionskräfte, das heißt durch naturgesetzlich determinierte Zwecksetzung, geschaffen. Die soziologische Schule stand auch unter starkem Einfluß der Lehre Lombrosos, der Lehre vom geborenen Verbrecher. Der Naturalismus vermeinte mit den Methoden der Naturwissenschaft auch die Probleme der Geisteswissenschaft lösen zu können, mithin durch Kausalverknüpfung empirischer Gegebenheiten und durch Zurückführung aller Phänomene auf ihre Ursachen. Der Mensch wurde zu einem Teil der Wirklichkeit, wie jedes andere Stück der organischen oder anorganischen Natur. Es wurde damit auch im menschlichen Bereich der Gedanke einer blinden Gesetzmäßigkeit herrschend und die Willensfreiheit des Menschen und damit auch seine Würde und seine Geistigkeit geleugnet und der Mensch zu einem „Hampelmann“ von Kräften degradiert.

Bei dieser Auffassung wird aber der Mensch, der Mittelpunkt der Rechtsordnung, seiner Würde, als von Gott zur Freiheit der Entscheidung und des Handelns berufenes und auf Selbstverantwortung angelegtes Wesen, entkleidet und zu einem willenlosen Apparat herabgewürdigt, der lediglich auf Einflüsse von Anlage und Umwelt wie ein Seismograph ausschlägt. Wird aber die Freiheit des Willens geleugnet und damit in Abrede gestellt, daß der Mensch überhaupt der an ihn durch die Strafrechtsordnung gestellten Verhaltenserwartung aus eigenem entsprechen kann, wird auch die Voraussetzung für die Schuld und damit auch für die Strafe, als Übel für begangenes Unrecht, hinfällig. Die konsequente Folge dieser Auffassung ist, daß aus dem Verbrecher ein bemitleidenswerter Kranker wird, den man heilen muß oder den man im Falle der Unverbesserlichkeit als „Unheilbaren“ wie einen Geisteskranken internieren darf. Nach diesem Menschenbild ist es selbstverständlich, daß Strafen weder den Täter (Spezialprävention) noch die Allgemeinheit (Generalprävention) von der Verübung weiterer Straftaten abhalten können und der Strafe jeder Sühnecharakter genommen werden muß. Wäre es doch sinnlos, Menschen wegen Verletzung von Strafvorschriften zu bestrafen, wenn ihnen ein anderes Verhalten gar nicht zumutbar ist. Damit wird aber die Legitimation, zu bestrafen, überhaupt verneint, und es wäre besser, die Strafgerichte an Stelle von Richtern mit Psychologen, Pädagogen und Ärzten zu besetzen und die Gefangenenhäuser in Heilstätten umzuwandeln. Dies ist die letzte Konsequenz des sogenannten Täterstrafrechtes.

In den Auseinandersetzungen über den neuen deutschen Strafrechtsentwurf, der demnächst dem Bundestag zugeleitet wird, kamen die notwendigen Konsequenzen dieser Lehrmeinung ganz klar zum Ausdruck. So hat vor allem Generalstaatsanwalt Dr. Bauer aus Frankfurt in seinem Kampfe gegen Vergeltungsstrafe, Generalprävention, Schuld und Sühne gefordert, daß gegen die Gesetzesübertreter „mit kriminologisch fundierten, auf den Täter abzustellenden Maßnahmen“, also nicht mit „Strafen“ vorzugehen sei, die in erster Linie zu bezwecken hätten, ihn gemeinschaftsfähig zu machen und bei nachweislich mangelnder Resozialisierungs-fähigkeit der Sicherung der Gesellschaft dienen sollten. (Siehe S. 56, „Grundfragen der Strafrechtsreform“, von Karl Peters und Dietrich Lang-Hinrichsen, Verlag Bonifacius-Druckerei, Paderborn.) Nach einem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 1. Juni 1960 von Prof. Dr. Richard Lange, lehnt Bauer den Ausdruck „Strafrecht“ überhaupt ab, prägt dafür den Begriff „Kriminalrecht“, setzt dieses mit Kriminalpolitik, Sozialpolitik, Wirtschafts- und Erziehungspolitik gleich und erklärt wörtlich, „daß das Kriminalrecht der Bekämpfung von Seuchen oder Regelung des Gas- und Wasserwesens nähersteht als dem, was gemeinhin als Ethik oder Moral bezeichnet wird“. Hier kommt die Lehre von der „Wertfreiheit“ des Rechtes, die auch von maßgeblichen Vertretern unserer Reformarbeit mit der Forderung vertreten wird, daß das Strafrecht mit Moral und Ethik nichts zu tun hat, klar zum Ausdruck. Ich glaube, daß sich gerade diese Äußerung als Grundlage für eine klärende Diskussion eignet. Bei dieser Auffassung gelangt man aber entweder zum „naturalistischen Positivismus“, „daß das Verbrechen das ist, was von einer Gruppe, die die Macht zur Durchsetzung ihrer Ansprüche besitzt, für besonders sozialschädlich gehalten wird“, oder zum eng damit verwandten „Ge-setzespositivismus“, „daß Verbrechen Handlungen einzelner Menschen sind, die die organisierte Gesellschaft mit besonderem Verbot belegt hat“.

Der deutsche Strafrechtsentwurf hält, nach jahrelanger Arbeit und Diskussion in deutschen Fachkreisen, bei einhelliger Billigung der Mitgliederkommission, an der Auffassung von der Schuld fest. Daß also die persönliche Schuld die Grundlage der Bestrafung bildet, womit die Freiheit des Willens anerkannt wird. Es wird darin auch eine bestimmte Ordnung sittlicher Werte vorausgesetzt (siehe Hans Heinrich Jeschek, „Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform“, Verlag Mohr, Tübingen). Auch die Mehrheit des 43. Deutschen Titristen-tages 1960 in München, der sich vor allem mit der Strafrechtsreform befaßte, hält grundsätzlich am Schuld-Sühne-Gedanken und am Vergeltungsstrafrecht in der Form fest, daß die Strafe auch als Sühne für persönliche Schuld aufzufassen ist.

Diese Grundgedanken des deutschen Entwurfes bedeuten keinen Rückschritt, sondern entsprechen den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaften und widersprechen dem Menschenbild, das Franz List seiner Reformbewegung zugrunde gelegt hat.

Das Menschenbild, das unserer Reform zugrunde liegt, ist daher das Kind eines vergangenen Jahrhunderts Hans Heinrich Jeschek hat in seiner oben zitierten Schrift seine Überzeugung, daß das Menschenbild des Franz List und seiner Schule wissenschaftlich überholt ist, mit den neuesten Auffassungen namhafter Wissenschaftler belegt. So des Thomas Würtenberger: „Ohne die Ordnung eines dem Menschen aufgegebenen Sollens wäre schon seine biologische Seinsexistenz gefährdet.“

Das Verbrechen ist nicht nur eine „soziale Erkrankung“, und das Strafrecht ist nicht nur unter therapeutischen Gesichtspunkten zu betrachten. Wie es eine Freiheit gibt, gibt es eine Schuld, die sich aus der Neigung des Menschen zum Bösen in der Erbschuld ableitet. Es muß dabei auch noch von der Überschätzung des im Täterstrafrecht propagierten Strafzweckes des Erziehungs- und Sicherungsgedankens, der sich in der Praxis nur in sehr bescheidenem Maße verwirklichen läßt und bei unserem begrenzten Budgetrahmen ungeheure Mittel erfordern würde, gewarnt werden. Es wäre vorher auch notwendig, auszurechnen, was die Verwirklichung der im neuen Entwurf vorgesehenen Maßnahmen jährlich kosten würde, und zu prüfen, ob diese Mittel überhaupt aufgebracht werden könnten. Die Ergebnisse in Schweden, das als Mekka der Strafrechtsreformer genannt wird und wo der Resozialisierungszweck der Strafe seit langem im Vordergrund steht, sprechen völlig gegen die gehegten Erwartungen. Laut einem Bericht des Prof. Olivecroma aus Lund ist die Zahl der Straftaten in Schweden, die zur Kenntnis der Polizei gelangt sind, von 162.000 im Jahre 1950 auf 230.000 im Jahre 1956 gestiegen.

Es soll damit nicht .gesagt werden, daß nicht alle erdenklichen Mittel im Strafvollzug angewendet werden sollen, um den Täter zu bessern'. Die Frage ist nur das Wie. Die Arbeitstherapie wurde von berufener Seite mit der Begründung abgelehnt, daß die Arbeit nicht zur Strafe degradiert werden darf. Wenn dem Täter die Anerziehung eines Verantwortungsbewußtseins zugemutet wird, so kann man von „Erziehung“ nur dann sprechen, wenn damit eine Schulung seines Willens verbunden ist. Eine solche aber wird wiederum in Abrede gestellt, sonst könnte man nur von Dressur sprechen.

Da aber letztlich Schuld und Schicksal im Verbrechen unlösbar verstrickt sind, da ja vielfach die freie Willensentscheidung von schlechter Erbanlage und schlechten Umweltseinflüssen

überwuchert wird, muß in jedem Falle das Maß des Verschuldens gewissenhaft geprüft werden. Nur wer frei von Schuld ist, werfe daher den ersten Stein auf die Schuldigen, so daß letztlich neben der Gerechtigkeit doch wieder die Königin der Tugenden, die Liebe, regieren muß.

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