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Vom Panoptikon zu den Fingerprints.

Der Gegensatz von Liberalismus und Staatsabsolutismus ist im Sinne der schwarz-blauen Regierung keiner. Sie, unsere Regierung, reflektiert die gesellschaftlichen Verhältnisse der modernen, Waren produzierenden und Profit maximierenden Systeme: Entweder muss sich das Volk als Souverän gegenüber der Marktmaschine der autoritären Kontrolle des Staates hingeben oder die Freiheit muss sich als Selbstauslieferung des menschlichen Willens an den blinden Lauf der Marktmaschine äußern. Für die Mehrheit der Menschen ist der Gegensatz von Staatsmacht und Neoliberalismus uninteressant: Es läuft für sie auf dasselbe hinaus, ob sie von einer Staatsbürokratie oder von den Mechanismen des Marktes drangsaliert und gedemütigt werden.

Unter dem Nenner von Privatisierung, Selbstverwaltung, Autonomie und Chancengleichheit entzieht sich der neoliberale Staat seiner Verantwortung, behält aber über jeden einzelnen ausgelieferten Bürger die Kontrolle. Es ist klar, dass es unmöglich ist, die Menschen allein durch Repression zu zwingen, sich den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu unterwerfen. Deshalb beginnt der schwarz-blaue Neoliberalismus, die Repression mit den schönen Begriffen Nulldefizit, Reformen und Privatisierung zu verbinden.

Hatten die ersten Liberalen den Begriff der Selbstverantwortung noch auf sich selbst als Konstrukteure eines individuellen Kapitalismus bezogen, so wird dieser Begriff nun auf das Menschenmaterial Volk ausgedehnt. Darin liegt ein ungeheurer Zynismus: Die blind gemachten Staatsbürger sollen sich freiwillig zum Arbeitsvieh der Märkte machen und würdelos Arbeitsplätze schaffen oder suchen, selbst unter den miserabelsten Bedingungen, deren korrigierende Regulative vom Staat längst aufgegeben sind.

Schon Adam Smith (1723-1790), der Begründer der modernen ökonomischen Theorie auf liberaler Grundlage, verherrlichte das System der totalen Marktwirtschaft als eine Art göttliche Maschine, gesteuert durch den blinden selbstregulativen Mechanismus der Preise. Einer der großen Ideengeber für diese liberale Gesinnung war Jeremy Bentham (1748-1832), der Begründer einer Philosophie der Nützlichkeit: des Utilitarismus. Sein Schlagwort war: Größtmögliches Glück für die größtmögliche Zahl. Der Utilitarismus war überzeugt, dass nichts ohne Wirkung sei, d.h. jedes Ding nützt (oder schadet) einem anderen. Eine Handlung soll nach ihrer Wirkung auf die Gesellschaft beurteilt werden. Nur wenn sie die Lust, besser das Glück aller Betroffenen steigere, sei sie gutzuheißen. Bentham war ein scharfer Kritiker der Zustände in England. Er machte beispielsweise Vorschläge zur Verbesserung der Armenpflege und für eine Parlamentsform. Das Streben der Menschen nach Glück sollte übersetzt werden in den Impuls, alle Äußerungen des Lebens in den Zweck der Kapitalverwertung zu integrieren.

Um die Menschen dahin zu bringen, ihr eigenes Glück ausgerechnet darin zu sehen, sich in der kapitalistischen Tretmühle nützlich machen zu können, erfand Bentham eine besondere Zuchtanstalt, das sogenannte Panoptikon. Bentham sagt selber, dass es sich um ein Prinzip handelt, das für Gefängnisse ebenso geeignet sei wie für Fabriken, Büros, Krankenhäuser, Schulen, Kasernen, Erziehungsheime usw. Architektonisch besteht das Panoptikon aus einem kreisrunden Gebäudekomplex, in dessen Zentrum sich die (mit Vorhängen versehene) Loge des Kontrollors und an dessen Peripherie sich die voneinander abgetrennten Zellen der Gefangenen oder Zöglinge befinden. Viele Gefängnisse und Arbeitshäuser des 19. Jahrhunderts wurden nach diesem Muster gebaut. Der Zweck der Anordnung ist es, dass die Gefangenen sich permanent beobachtet und kontrolliert fühlen, ohne zu wissen, ob die Loge des Kontrollors wirklich besetzt ist. Die Insassen sollen sich allmählich von sich aus und automatisch so verhalten, als ob sie beobachtet würden, selbst wenn das gar nicht der Fall ist.

Diese Architektur auf ein Staatsgebäude bezogen ist denkbar, besonders unter Berücksichtigung der totalen Kontrolle durch Fingerprints und Sozialversicherungskarten, Meldecomputer, Vermummungsverbote, Kontrollsystem in Lehre und Forschung etc. Das Panoptikon war nichts anderes als eine liberale Selbstverantwortungs-Maschine, um die Menschen zu einem marktorientierten Verhalten zu bringen. Die Mechanismen der Unterwerfung und Selbstverleugnung sollten zur Strategie des Menschen werden. Diese liberale Erziehungsdiktatur objektivierte sich in architektonischen und organisatorischen Strukturen, in Vorschriften und psychosozialen Mechanismen. Die kapitalistischen Imperative, so schrieb der Philosoph Michel Foucault in seinem Buch "Überwachen und Strafen" (1976) über das Panoptikon, erscheinen in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind.

Bentham arbeitete ununterbrochen an der Verbesserung des sozialen Apparats der Dressur von Menschen. Er ist der Erfinder der Isolationshaft, der Identitätskarten, der Namensschilder und des Großraumbüros. 1804 schlug er vor, alle Engländer mit einer Nummer zu tätowieren. Gleichzeitig behauptete Bentham, glühender Demokrat zu sein. Vom Dienstboten bis zum Minister sollten alle gleichermaßen mitwirken an der öffentlichen Selbstkontrolle, das heißt sich selbst und andere beobachten, um gemeinsam tagtäglich die Uhr der Selbstunterdrückung aufzuziehen. Kant, der Philosoph der Aufklärung, hatte gefordert, der Mensch solle herausgehen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen. In der Konsequenz von Bentham wird der geheime Sinn der neo-liberalen Vorstellungen deutlich: jeder sei sein eigener Polizist, Erzieher, Gefängniswärter und Antreiber. Die Staatsmaschine braucht selbstregulative, automatisch sich anpassende Individuen. Bentham hat Orwells Alptraum von 1984 um fast 200 Jahre vorweggenommen, aber als reales Projekt. Ironischerweise versteht die neoliberal-demokratische Welt heute 1984 als Warnung vor dem staatlichen Totalitarismus, ohne zu erkennen, dass sie selber längst das Opfer eines totalitären liberalen Gedankenguts geworden ist. Der neoliberale Staat fordert, dass wir uns alle selbstregulativ als Knechte einer wirtschaftlichen Selbstverantwortung verhalten.

Der ältere Begriff von Freiheit oder Individualismus dagegen, der auf soziale Autonomie zielte, ist vergessen. Der Neoliberalismus , verbunden mit den Namen Hayek, Rorty, Rawls oder Nozick, misstraut grundsätzlich der staatlichen Macht, ist aber blind gegenüber dem Missbrauch durch die internationalen Konzerne und Systeme, deren Jahresumsätze längst über dem Sozialprodukt mittelgroßer Länder liegen. Indem die Neoliberalen immer mehr den Rückzug des Staates fordern, vergessen sie, dass gerade die Absicherung die Bedingungen für das Modell eines reduzierten Staates einen starken Staat voraussetzt. Global hat der Neoliberalismus als wirtschaftspolitische Praxis die Volkswirtschaften destabilisiert, die ungleiche Einkommensverteilung verschärft und das ökologische Desaster verstärkt.

Jedes demokratische System ist von seiner Verfassung her verpflichtet, folgende Punkte zu berücksichtigen: Gewissens- und Gedankenfreiheit, politische Freiheit, Chancengleichheit, freie Berufswahl, staatlich garantiertes Existenzminimum, staatliche Gewährleistung der Konkurrenz. Der Staat muss also dafür sorgen, dass die erwirtschafteten Güter gerecht verteilt werden. Er muss aber auch dafür sorgen, dass ungleiche Startbedingungen ausgeglichen werden.

Ist das Volk als Souverän wirklich unfähig, die modernen Produktivkräfte durch soziale Selbstbestimmung und bewusste Verständigung zu regulieren, statt sich einem blinden ökonomischen Automatismus auszuliefern, der eine Staatsmaschine fordert, nachdem sie sich auf das Notwendigste zurückgezogen hat?

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