6617511-1955_41_04.jpg
Digital In Arbeit

Der Kollektivismus in uns

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn wir unter Kollektivismus ein' System gesellschaftlicher Ordnung verstehen, das alles politische und in weiterer Folge alles persönliche Handeln bis hinab zur Konsumwahl der Dispositionsmacht einer zentralen Stelle übereignet“, müssen wir den Kollektivismus, er sei so oc(er so etikettiert, rundweg ablehnen. Um des Menschen willen, zu dessen persönlicher konkreter Wohlfahrt der Kollektivismus keine wie immer geartete Beziehung hat. Die Entfaltungsmöglichkeiten, die in der menschlichen Natur angelegt sind, werden vom Kollektivismus zugunsten kollektiver Werte, etwa des Staates, eines anonymen „Volkes“ oder einer „Firma“ reduziert. Trotz aller wortreichen Ver; deckungsversuche will der Kollektivismus dieser Zeit eine neue a-persönliche Despotie an die Stelle der antiken Tyrannis und des mittelaltSr-lichen Feudalismus setzen.

Wenn wir an den Kollektivismus denken, können wir es meist nicht vermeiden, dabei gleichzeitig an den Sozialismus zu denken und diesem mit gut gespielter Entrüstung die Schuld für alle kollektivistischen Freiheitsberaubungen zu überlasten.

Nun ist der Kollektivismus in der Darstellungsweise des extremen Sozialismus sicherlich der eindeutigste Versuch, die menschliche Freiheit zugunsten anonymer Institutionen zu verkürzen. Wir sollten aber nicht darüber hinwegsehen, daß es auf der anderen Seite einen, wenn auch prinzipien- und systemlosen, aber nicht weniger wirksamen Kollektivismus gibt, einen verschämten, unausgesprochenen Kollektivismus, der sich im Schatten der unter Absingen vieler erhebender Lieder aufgezogenen Freiheitsfahne konstituiert hat.

Im Wesen zeigt sich dieser bürgerliche Kollektivismus jenes Terrains, das wir als „Freie Welt“ bezeichnen, in drei Formen: 1. als wirtschaftliche Vermachtung, 2. als nichtsozialistischer Etatismus, und 3. in der Herausbildung der sogenannten „pressure groups“ — der bürgerlichen Interessenverbände.

Die wirtschaftliche Vermachtung ist beileibe keine sozialistische Erfindung. Was der marxistische Sozialismus an Machtinstitutionen errichtete, war nur eine gelungene, wenn auch weniger farbenreiche Systemkopie von nach außen hin privatwirtschaftlich geführten Unternehmungen. Bevor es noch die staatskapitalistischen Trusts gab, bestanden schon im Gehege einer bürgerlichen Ordnung die Kapitalkonzentrationen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft, bestanden schon die Kartelle höherer Ordnung und die Unternehmungen, die im Eigentum von Banken waren, die sich wieder im Eigentum anonymer Mächte befanden. Ist nicht etwa schon lange vor den sozialistischen Kapitalakkumulationen im Finanzkollektivismus der Banken der neuzeitliche Kollektivismus dem System nach vollendet worden? Auch wenn die in Frage kommenden Unternehmungen geführt wurden, a 1 s o b sie sich in den Händen physischer Personen befänden. Und gehört nicht der Versuch westdeutscher Interessentengruppen, im Namen der Freiheit eben diese Freiheit im Raum der Wirtschaft auf die Freiheit von Mächtigen und schließlich auf ein Denkmodell zu reduzieren, nicht auch zu den Formen einer freien Wirtschaft des als ob? Ist nicht auch das Bestehen von 98 Kartellen in Oesterreich, von denen lediglich 18 Kartelle niederer Ordnung sind, ein Beweis für das Vorhandensein eines Kollektivismus auch auf der anderen Seite, der nicht Freiheit an sich will, sondern Mitmacht oder Alleinmacht? War nicht der so ungemein „bürgerlich“ aufgezogene nationalsozialistische Staat in seinen Darstellungsweisen der unverhüllte Beweis für einen bürgerlichen Kollektivismus? Im Ablauf der Ereignisse wurde die kollektivistische Komponente im Handeln der Nationalsozialisten gegenüber der bürgerlich-freiheitlichen übermächtig. Das sollte bei denen nicht vergessen werden, die im Namen sogenannter bürgerlicher Freiheiten heute eine Exhumierung des maßlosen Nationalismus fordern.

Der bürgerliche Etatismus zeigt sich darin, daß man im Namen der Freiheit alle Verwaltungsmacht an zentralen Stellen sammeln will. Vom sozialistischen Etatismus ist der bürgerliche nur dadurch zu unterscheiden, daß seine Nutznießer weniger von ihm reden und daß — eine Folge seiner Prinzipienlosigkeit — erheblich mehr Chancen bestehen, ihn zu überwinden. Aber die Dämonie des Apparats, das Apparatdenken mit seiner vollendeten Distanzierung der Verantwortlichen von den Interessen der einzelnen „Betreuten“, ist nicht weniger wirksam als beim biederen sozialistischen Apparat. Erinnern wir uns an die Vorgänge um das ASVG, das nicht spontan von den Vertretern der „bürgerlichen“ Politik gegenüber dem ursprünglichen Konzept im Interesse freiheitlicher politischer Prinzipien berichtigt wurde, sondern unter dem Druck einer diesmal wirklich von unten her getragenen Volksmeinung, über deren jeweilige Aeußerungen man freilich verschiedener Meinung sein kann.

Und dann sind da die politisch wirksamen „pressure groups“, die bürgerlichen

Interessenverbände, die, nach außen hin wohlweislich über- und unparteilich organisiert, sich der Parteiapparate oft und oft bemächtigen. Die Mandatare haben auf diese Weise zuweilen nur noch die Position von Kommissären, die wohl im eigenen Namen, aber für fremde Rechnung tätig sein müssen. Die Interessentenkartelle haben das Leben in den Parteien zuweilen auf Reaktionsbewegungen reduziert. Zu den „pressure groups“ hat sich in den letzten Jahren in unserem Land die Boulevardpresse gesellt, die vermöge ihres immensen Verbreitungseffektes die öffentliche Meinung nach einheitlichen Leitideen zu gestalten versteht und die Politiker zwingt, sich nicht selten dem uniformen Begehren der Straße zu fügen, dem atavistischen Kollektivismus einer politischen Unterwelt.

Dem Apparatdenken gegenüber ist keine Gruppe immun, nicht die „feisten“ Bürger und nicht die „verhärmten“ Proletarier, wenn es darum geht, errungene Macht zu halten, die von unten her, vom „gemeinen“ Volk, stets gefährdet werden kann. Um dieser Bedrohung zu entgehen, bedarf es der Institutionen mit zentraler und inappellabler Anordnungsmacht. Zur Rechtfertigung des Bestehens der Apparate wird stets eine eigene Rechtfertigungsideologie geschaffen, bei der das liebe „Volk“ und seine Interessen eine große Rolle spielen. Das zur Schau getragene Bekenntnis zum faktischen Kollektivismus ist freilich auf „bürgerlicher“ Seite wegen der notwendigen Bedachtnahme auf die Meinung des Bürgertums eine sehr gedrosselte. Vom Kollektivismus ist nie die Rede, wenig auch vom Zentralismus, eher schon wird im Namen einer sagenhaften „Wirtschaft“ gesprochen, die dieses oder jenes fordert, als ob es ein uniformes Ganzes als Repräsentanz der unternehmungsweisen Wirtschaftsführung gäbe. Zwischen 1934 und 193S gab es in Oesterreich auch nicht wenige, die ihren Kollektivismus hinter den Argumenten der auf völlig andere Zielsetzung gerichteten Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ verdeckten.

Auf der anderen Seite aber stellt der (liberale) Sozialist Professor Schiller aus Hamburg auf der Ischler Wirtschaftswissenschaftlichen Woche die Forderung auf, daß bei jeder Planung dem Wettbewerb ein Maximum an Wirkungsraum einzuräumen sei!

Bis vor wenigen Jahren schien der Kollektivismus den Massen der Arbeitnehmer der unteren Einkommensschichten — und teilweise nicht mit Unrecht — mehr an wirtschaftlichen und sozialen Vorteilen zu bringen als an Nachteilen. Die entarteten Erscheinungsweisen der liberalen Marktwirtschaft hatten ökonomische Macht und Vermögen an wenigen Punkten konzentriert und eine Form der unternehmerischen Despotie aufgerichtet, die sich, auf lange Sicht gesehen, auch als volkswirtschaftlich falsch erwies. Daher das Ja der Arbeitnehmer zu allen Versuchen, die darauf gerichtet waren, der unternehmerischen Macht Gegenmacht zu bieten, und sei es auch über ein System des Kollektivismus. Blieben doch die Warnungen der Vertreter eines wahrhaft freiheitlichen Bürgertums auf bürgerlicher Seite ungehört und wurden als Professorengerede abgetan.

Allmählich aber zeigte es sich, daß der gegen die Ausbeutung der Arbeitnehmer geschaffene Komplex von Apparaten sich als neue und besondere Form der Ausbeutung erweisen konnte: Neue Eliten kommen durch die Apparate zu gesicherter und bestens bezahlter Stellung. Die Vertretung der Interessen- der Arbeitnehmer wurde vielen Funktionären zu einem gut honorierten Broterwerb; Nicht mehr. Die Benefizien, die sich die. neuen Herren selbstherrlich bewilligten, waren beträchtlich und in ihrer Höhe von prövokativer Wirkung. Der Apparat ist vielfach nur um seiner willen da und eine Art Selbstverwaltungskörper (wobei der Begriff wörtlich zu verstehen ist). Die Geschäfte des Apparates wurden mit verringerten Interessen geführt. Daher war seine Führung relativ teuer. Was der Apparat bot, schien nicht billiger und nicht besser als die Leistungen vergleichsweiser privatwirtschaftlich geführter Apparate (man vergleiche die Leistungen der Krankenkassen).

Bei den Massen haben heute die Kollektivgebilde — vielfach mit Unrecht — das Gesicht verloren. Daher ist man auf nichtsozialistischer Seite gegen Aktionen der sachlich notwendigen Institutionen (wer könnte die Arbeit der Handelskammer vermissen) besonders empfindlich geworden. Man erinnert sich daran, daß die Institutionen geschaffen wurden, um dem Sozialismus mit seinen auf absolute Kollektivi-sierung gerichteten Bemühungen zu begegnen, kommt aber oft zur Ansicht, daß der extreme Individualismus (die unselige Dynamik privater Interessen, wie der Papst sagt) und der offene Kollektivismus (die „kollektive Selbstsucht“) einander näher sind, als ihre jeweiligen Vertreter es wahrhaben wollen. Beide wollen den Menschen einem vorgeordneten Ganzen verpflichten. Die einen reklamieren die Freiheit und meinen ohnedies vielfach nur eine höchstpersönliche Freiheit für sich. Um diese ihre private Freiheit vor dem Zugriff anderer zu sichern, richten sie ihre Schutzdämme auf, die sie mit unscheinbaren Bezeichnungen ver-: decken. Für die andere Seite ist das Wort „Freiheit“ nicht selten nur noch eine Wortattrappe/ So erweist sich nun bei der hellhörig gewordenen Masse das, was man ihr als Institut mit dieser oder jener Firmenbezeichnung hinstellt, als Gefährdung des Gemeinwohles. Der Grundsatz, daß die Funktionäre die Ordnung vertreten (Dr. Agartz in der Generalversammlung der Industriegewerkschaft Bergbau, August 1955), wird auch und nicht selten von bürgerlicher Seite praktiziert.

Die allgemeine Revolte gegen die hochkapitalistische Despotie entstammte einem echten Anliegen. Ihr Pathos war echt und konnte auf die Wirklichkeit einer nach den Maßen von heute unvorstellbaren Ausbeutung zurückgeführt werden. Und nun scheint es, als ob wir in unserem Land vor einer zweiten Revolte stünden, einer Revolte, die ienseits von Parteimeinungen sich vollzieht und quer durch unser Volk geht. Das, was man „Volkserhebung“ nennt, ist selten von unten her mitgetragen. Diesmal — in Aussee und bei den Vorgängen um das ASVG — konnten wir wirklich von einer Erhebung des Volkes sprechen. „Höheren“ Orts hat man von diesen Dingen nicht viel gemerkt, weil man es sich abgewöhnt hat, etwa in der Straßenbahn zu fahren und zu hören, was dort die Hörigen des Apparatfeudalismus über eben diesen Apparat zu sagen beliebten.

Mit dem Kollektivismus aber sind die Institutionen gefährdet. Nicht des Kollektivismus wegen, der eine Privatangelegenheit der beamteten Nutznießer geworden ist, sondern der Institutionen wegen, die notwendig sind und das Bestehen der gesellschaftlichen Ordnung sichern helfen, sollte an eine Revision in der Führung der Apparate gegangen werden. Nicht der Apparat ist schlecht, sondern die Art, wie er in vielen Bereichen geführt wird. Wenn noch ein Quantum an freiheitlichem Behauptungs- willen bei jenen vorhanden ist, die dazu berufe sind, die gesunden bürgerlichen Traditionen zu bewahren, sollte die bürgerliche Seite den Anfang mit der Entkollektivisierung machen und die oft funktionslos gewordenen Institutionen eindeutig auf die einzelmenschlichen Interessen beziehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung