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Der Weg des Istvan N.

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EIN FLÜCHTLINGSPROBLEM IN ÖSTERREICH — das gibt es doch nicht mehr; so meinen viele, vor allem im Ausland. Dem Umgarn Istvan N. präsentiert sich die Situation allerdings etwas anders. Nachdem er endlich ein Empfehlungsschreiben seines Betriebes (er arbeitete als Feinmechaniker in einem größeren Budapester Betrieb) und die ebenfalls nötige Empfehlung des örtlichen Rates erhalten und auf Grund dieser Schreiben seinen Paß ausgefolgt bekommen hatte, war er mit dem Reisebüro „Jbusz“ nach Wien gekommen. Hier führte ihn sein erster Weg zur österreichischen Polizei: Istvan N., 24 Jahre, Junggeselle, ersucht um politisches Asyl; er kann zwar kein Deutsch, aber die Polizei weiß schon, was er will.

Istvans nächste Station ist das Transitlager Traiskirchen. Lager — das ist ein ziemlich nebulöser Begriff; es gibt Konzentrationslager, es gibt auch Ferien- und Erholungslager. Traiskirchen ist keines von beiden, weder das Transitlager noch das Freilager. Für Istvan ist der erste Eindruck des Transitlagers eher der eines Gefängnisses. Er ist in einem unfreundlichen Gebäude eingesperrt, von der Umwelt abgeriegelt, und er wird ständig verhört. Die Staatspolizei nimmt Istvan genau unter die Lupe. Warum er nach Österreich gekommen ist? Nun, ihm gefiel es nicht mehr in Ungarn; be- ruflich fühlte er sich nicht voll anerkannt, zu wenig Aufstiegsmöglichkeiten, zu geringe Bezahlung. Die ganze kommunistische Indoktrinierung hatte bei ihm keinen Erfolg, höchstens den eines immer stärker werdenden Widerwillens gegen den Marxismus-Leninismus, den Dia- mat, den Weg zum Sozialismus. Das alles war doch Unsinn. Noch dazu hatte Istvan genügend Informationen über den Westen: Wohlstand für alle, Autos auch für den kleinen Mann, bessere Kleidung, Freiheit von jedem auch noch so sanften politischen Zwang — mit einem Wort, für jeden Tüchtigen ein wahres Paradies. Man müßte nur nach Österreich kommen, dann würde man schon weitersehen.

ISTVAN VERSTEHT NICHT GANZ, warum die Staatspolizei das alles von ihm wissen will. Aber als er endlich nach vier Wochen (es können auch zwei Monate sein, oder zwei Wochen) das Transitlager verlassen kann und erfährt, daß er nicht als politischer, sondern nur als Wirtschaftsflüchtling eingestuft worden ist, weiß er es; zumindest teilweise. Er weiß nichts Genaues davon, daß östliche Geheimdienste immer wieder versuchen (meistens gelingt es ihnen auch), ihre Agenten als Flüchtlinge in den Westen zu schleusen, und daß im Lager Traiskirchen bestimmt mindestens ein ungarischer „Flüchtling“ ist, der mit der AVO in Verbindung steht und ihr über alle Vorgänge berichtet, auch darüber, daß Istvan hier ist. Die Staatspolizei versucht eben nur, den Eingeschleusten auf die Spur zu kommen.

Davon weiß Istvan zuwenig. Fürs erste ist er einmal sehr enttäuscht, vom Westen, von der vielgerühmten Freiheit, die für ihn zuerst ein Gefängnis war. Er ist Wirtschaftsflüchtling, wie die meisten anderen Jugoslawen, Ungarn, Tschechen, Polen, Russen, Rumänen, Bulgaren und Albaner: Nur zirka 15 bis 20 Prozent aller Ostflüchtlinge werden von den österreichischen Behörden als politische Flüchtlinge im Sinn der Genfer Konvention anerkannt und erhalten einen Konventionspaß. Als Wirtschaftsflüchtling wird über Istvan ein Aufenthaltsverbot verhängt, dessen Vollzug aber gleichzeitig für sechs Monate aufgeschoben wird. In diesen sechs Monaten, so erfährt Istvan, kann er im Freilager Traiskirchen wohnen, Arbeit suchen und im übrigen seine Auswanderung vorbereiten — wobei ihm österreichische Behörden behilflich sein wollen.

IM FREILAGER ERHÄLT IST- VAN EIN QUARTIER, das heißt ein Bett in einer Massenunterkunft. Einzelzimmer gibt es nur für Familien. Das Essen ist für Istvan vorerst gratis, später, wenn er Arbeit gefunden hat, wird er dafür einen kostendeckenden Betrag bezahlen müssen. Er muß nun entscheiden, wohin er auswandem will. Die Qual der Wahl ist nicht groß, er kann sich nur zwischen Kanada und Australien entscheiden; alle anderen Staaten benötigen den Facharbeiter Istvan nicht. Er wird einer gründlichen ärztlichen Untersuchung unterzogen, und wenn er das Pech hat, nicht für gesund befunden zu werden, kann er seine Auswanderungspläne wieder aufgeben. Nur Gesunde werden gebraucht.

Nehmen wir an, Istvan hat auch diese Hürde übersprungen und darf nun berechtigt hoffen, in wenigen Monaten bereits nach Übersee unterwegs zu sein. Für die Zwischenzeit sucht er Arbeit, um Essen und Kleidung bezahlen zu können, aber auch, um nicht den ganzen Tag untätig zu sein. Der Feinmechaniker Istvan findet Arbeit, allerdings nicht in seinem Beruf. Als Hilfsarbeiter kommt er aber ohne besondere Schwierigkeiten unter, mit 400 Schilling Wochenlohn. Mit diesem Betrag lebt man in Traiskirchen gar nicht so schlecht. Allerdings muß er bereits an die bevorstehende Reise denken, für die ja auch noch zu bezahlen ist (zirka 1000 bis 1500 Schilling). Aber das finanzielle Problem ist es nicht, was Istvan bedrückt. Das Leben im Lager ist es, das er allmählich als fast unerträglich empfindet. Nicht, daß die Lagerleitung ihn und seine Schicksalsgenossen schikanieren würde — ganz im Gegenteil, man macht von dieser Seite alles, um das Los der Flüchtlinge (meistens befinden sich, je nach Jahreszeit, 1000 bis 2000 Flüchtlinge in Traiskirchen, dem einzigen Flüchtlingslager in Österreich) zu erleichtern. Aber das Zusammenleben mit Hunderten gleichfalls Wartenden, die wegen der Ungewißheit ihres zukünftigen Schicksals psychisch besonders labil sind, die Desillusionierung, die Trostlosigkeit der Massenunterkünfte, das sich vielleicht langsam regende Heimweh — das sind Faktoren, die alle Flüchtlinge seelisch belasten. Nicht alle finden in dieser Situation den Weg zum un garischen (oder jugoslawischen) Lagerseelsanger.

ES SIND DIE DESILLUSIONIERUNG UND DIE TROSTLOSIGKEIT des Lagerlebens, die immer wieder Flüchtlinge dazu bringen, freiwillig in ihre Heimat zurück- zukehren; aber ihre Zahl ist dennoch sehr klein. Was Istvan aufrecht hält, ist das Bewußtsein, nur auf einer Zwischenstation zu sein, ■nur noch kurze Zeit warten zu müssen. Dieses Bewußtsein ist wohl unter anderem die Ursache dafür, daß unter den Flüchtlingen die Kriminalität unverhältnismäßig gering ist — eine Tatsache, die wegen einiger maßlos aufgebauschter Einzelfälle nicht jedem bekannt ist.

Da er jung und gesund und daher in Übersee willkommen ist, kommt nach einigen Monaten für Istvan die Zeit des Abschieds von Österreich. Vielleicht bedauert er es, nicht hier oder in einem anderen Land Europas bleiben zu können. Aber Europa will ihn nicht. Istvan nimmt ein gutes Andenken an Österreich und die Österreicher mit nach Kanada oder Australien. Was ihm weniger gut in Erinnerung bleibt, ist das System, in dessen Mühlen er geraten ist, das ihn zuerst mißtrauisch wie einen Verbrecher überprüft und dann möglichst schnell weitergereicht hat, wie eine unbequeme Sache. Auch wenn sich genug Gründe für die Notwendigkeit dieses Systems finden lassen, für Istvan — und nur für ihn, nur für die Flüchtlinge? — besitzt dieses System viele, nicht sehr menschliche Schattenseiten.

ÖSTERREICH HILFT DEN FLÜCHTUNGEN, so gut es kann. Aber die anderen Staaten? Als Immigranten sind die osteuropäischen Flüchtlinge nur von Kanada und Australien gesucht, von den USA und von Schweden nur dann, wenn US- oder schwedische Bürger sich für die Flüchtlinge verbürgen. Die übrigen Länder sind an den Flüchtlingen nicht interessiert. Die deutsche Bundesrepublik und die Schweiz wissen zwar nicht, woher sie genügend Fremdarbeiter zur Befriedigung ihres Bedarfs an Arbeitskräften bekommen können, aber gerade diese beiden Staaten verhalten sich den osteuropäischen Flüchtlingen gegenüber besonders abweisend. Immer wieder kommt es sogar dazu, daß Flüchtlinge von den westdeutschen Behörden auf kürzestem Weg in ihre Heimatländer zurückbefördert werden, wo strenge Strafen auf sie warten. Die deutschen Behörden führen in solchen Fällen an, die Flüchtlinge hätten die Grenze illegal überschritten. Wie leicht ist es doch, von der Freiheit und den Vorzügen der Demokratie zu reden, aber eben nur zu reden…

Auch die Staaten, die Flüchtlinge als Einwanderer suchen, machen dies nicht auf Grund ihrer .humanitären Gesinnung. Gefragt ist nicht der Mensch, gefragt ist die Arbeitskraft. Wer nicht jung und gesund, oder wer nicht beruflich besonders qualifiziert ist, hat kaum Chancen, nach Australien oder Kanada zu kommen. Die nicht mehr jungen oder die kranken Flüchtlinge, die müssen in Österreich bleiben — sofern sie nicht Jugoslawen sind, die in solchen Fällen nach Jugoslawien abgeschoben werden. Diese Gesinnung, im Flüchtling nur eine eventuell als Arbeitskraft verwertbare Ware zu sehen,, die gilt es zu ändern. Die internationalen Organisationen, die dem Problem der osteuropäischen Flüchtlinge in Österreich 1956 so großes Augenmerk geschenkt und dann dasselbe Problem wieder vergessen haben, müßten mithelfen, alle besitzenden Staaten an ihre menschliche Pflicht zu erinnern, um so mehr, wenn diese Staaten ständig auf ihre freie Gesellschaftsordnung hinweisen, auf eine Gesellschaftsform, die doch angeblich als einzige der Würde des Menschen gerecht wird.

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