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Blick zurück in Wehmut

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Sieben Monate in der alten Heimat sind für einen ehemaligen Österreicher Monate, an die er mit Dankbarkeit und Freude zurückdenkt. Die wiedergewonnene Anmut der Hauptstadt, die Fülle großartiger Darbietungen im Konzerthaussaal wie auf der Bühne, die große Zahl der „Beisel“, in denen man zu niedrigen Preisen so gut ißt wie nirgends auf der Welt; aber auch die vielfältige Landschaft, deren einziges gleichbleibendes Merkmal berückende Schönheit ist, von der Melancholie des Neusiedler Sees bis zur herausfordernden Unerbittlichkeit der Alpen, alles dies vereint sich, um den Besucher, wo er. auch hinkommt, jeden Tag wie auf Rosen wandeln zu lassen.

Rosen und Dornen

Man wandelt jedoch nicht auf Roten, ohne Dornen zu spüren. 1938 hat man getrauert, 1945 gehofft, 1955 gejubelt, und 1962 empfindet man Wehmut; Wehmut, weil man diesem Land zu sehr verbunden ist, um sich nicht Sorgen über seine Zukunft zu machen. ]

Ein zweitrangiger Grund für die , österreichische Abneigung gegen Kri- , tik scheint der Meinung zu entsprin- . gen, daß Kritik sich mit Höflichkeit ( nicht verträgt. Die Höflichkeit ge- , nießt in Österreich, und besonders in ( Wien, großes Ansehen. Das bemerkt . man gleich beim ersten Spaziergang. Auch in den Vereinigten Staaten neh- 1 men die Automobilisten Rücksicht auf die Fußgänger (diese allerdings nicht | auf die Autofahrer), wie sie in Europa ( jenseits von Wien unbekannt ist. Aber , ihre Höflichkeit ist eine resignierte, j ohne Wiener Grandezza. In den USA ( ist Höflichkeit im Verkehr ein Ord- ] nungsfaktor, in Wien Selbstzweck (

In einem /anderen Punkt, der, viel- ] leicht nicht ganz zu Recht, in die Ka- , tegorie der Höflichkeit eingereiht wird, , sind sich Amerikaner und Österreicher , sehr ähnlich. Beide geizen nicht mit Versprechungen.

Überhaupt ist es mit der Höflichkeit so eine Sache. Der Besucher, der mehr über sie herausfinden will, sich aber nur kurz in Wien aufhalten kann, nimmt beim „Herrn Karl“ Schnellunterricht. Derjenige, der das Glück hat, länger bleiben zu können, bildet sich aus eigener Erfahrung. Er lernt bald, daß, wenn sich auch die Wiener Höflichkeit gegenüber der Zeit seiner Jugend weiter verfeinert hat, es bei dem ebenso berühmten Herzen manchmal den Anschein hat, „Gold gab ich für Eisen“.

Auf zwei Ebenen

Kaum länger dauert es, bis der die Politik verfolgende Besucher sich wieder daran erinnert, „daß im Heimatland Nestroys das Leben gern auf zwei Ebenen über die Bühne läuft“, wie einmal prägnant in der „Furche“ gesagt wurde. Auf einmal wird ihm klar, daß die demokratische Bühne deswegen so kärglich ausstaffiert ist, weil sich das Spiel längst in die Kulissen Verlagert hat. Auch in anderen Ländern spielt sich nur ein Teil des Spieles in der Sicht des Publikums ab. Es sind aber immerhin Zuschauer da, und man kann es daher nicht wagen, die Bühne dunkel zu lassen. In Österreich aber, scheint es, geht das Publikum lieber zum Heurigen.

Für den aus angelsächsischen Gefilden in das Gebiet der beiden Reichshälften verschlagenen Beobachter ist die Dialektik zwischen Regierung und Opposition die Vorbedingung für die Gesundheit der Demokratie. Wo diese Dialektik fehlt, muß die Versteinerung des Gemeinwesens die Folge sein. Soweit ist es zwar in Österreich noch nicht gekommen, aber der Besucher vermeint, vielleicht überscharf, zu sehen, wie der Staat paralysiert wird, weil die schwere Hand einer starr gewordenen Oligarchie auf ihm lastet.

Allerdings scheint es mit den Demokratien in Mitteleuropa überhaupt nicht zum besten bestellt zu sein. Sie werden mit der Schwierigkeit, eine neue, staatstragende Elite herauszubilden, nicht fertig. Falls die österreichische Oligarchie, die die verfassungsmäßigen Regierungseinrichtungen ausgehöhlt hat, das Problem der Elitebildung gelöst hätte, wäre Kritik an ihr demokratischer Doktrinarismus. Hat sie es aber nicht gelöst, dann stellt sie das zweite Stadium einer degenerierenden Demokratie dar, was infolge ihrer Schwäche gegenüber dem Druck außerparlamentarischer Drahtzieher und wirtschaftsgrüpplicher Kraftmeier eher wahrscheinlich erscheint. Das dritte Stadium ist bekanntlich die Herrschaft eines charismatischen Führers.

Sieben Monate sind zu kurz, als daß sich der frisch angelernte Besucher ein gehaltvolles Urteil über die Regenerationsfähigkeit der Oligarchie, die die Voraussetzung einer Elitebildung ist, erlauben darf. Er kann nur registrieren, daß erfahrene und gelernte Österreicher sie skeptisch beurteilen. Ihre Meinung scheint ihm durch das Vorurteil der alternden Oligarchie gegen neue Lösungen für die drängenden innen- und außenpolitischen Probleme sowie durch ihre Unduldsamkeit gegen kritische Auseinandersetzung bestätigt.

Der Kritiker und sein Los

Zu Anfang seines Aufenthaltes erhielt der durch angelsächsische Pflege der Kritik vielleicht verwöhnte Besucher Einblick in das schwere Los des Kritikers im heutigen Österreich. Nach einer strapaziösen Autofahrt, aus Salzburg in Wien angekommen, fiel ihm der Leitartikel einer ihm bis dahin unbekannten Zeitschrift auf. Er bezog sich auf die Mühsale, die er gerade erlebt hatte. Nicht nur der Leitartikel, sondern überhaupt der offene Ton der gutgeschriebenen Zeitschrift gefiel ihm. Die nächste Nummer enthielt einen Brief des in der Vorwoche kritisierten Ministeriums., Darin wurde den mißliebig gewordenen Redakteuren mitgeteilt, ihre Einladung zu einer Veranstaltung sei rückgängig, gemacht worden. Potztausend, verwunderte der

tosende Beifall in den Ohren, den ein Lustspiel fand, das die politischen Verhältnisse persiflierte. Warum aber äußerten sich die Leute nur in der Anonymität des dunklen Zuschauerraumes? Nehmen sie die Pflicht des Bürgers in einer Demokratie, stetes waches Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten zu zeigen, nicht ernst, oder sind sie von der Anstrengung, ihren Lebensstandard zu heben, erschöpft? Die fehlende Einsatzbereitschaft für das Gemeinwesen ist dem Besucher deutlich in Gesprächen mit jungen Leuten aus allen Lagern aufgefallen. Der Staat interessiert sie nur insoweit, als er ihre Ansprüche auf die Annehmlichkeiten des Lebens schützt. Anscheinend können die Lenker des Staates tun, was sie wollen, solange sie nicht versäumen, den Lebensstandard ständig zu heben. Es gibt wohl noch idealistische junge Leute. Diese scheinen sich aber hauptsächlich zu Bombenanschlägen in Südtirol, Hakenkreuzschmierereien und anderem Unfug mißbrauchen zu lassen. Wie konnte diese Jugend dem Staat verlorengehen? Kann der Staat die ideelle Not derjenigen nicht befriedigen, die den Lebensstandard noch nicht zu ihrem Götzen gemacht haben? Wohl stehen die Österreicher in der Identifizierung des Staates mit einer Versorgungsanstalt nicht allein da, aber sie führen. Dies ist um so schlimmer, als man einen Staat, den man erst vor so kurzer Zeit wiedergewonnen hat, höher schätzen sollte. Dazu gehört aber sehr viel mehr als Flaggen zu hissen, auch wenn dies einen Fortschritt gegen früher darstellt.

Wo die politische Landschaft verkarstet ist, besteht die Gefahr eines Erdrutsches, sobald das unvermeidbare Schlechtwetter einsetzt. Man kann sich nicht der Furcht erwehren, daß die Oligarchie von Panik befallen ist und daher in ihrem Bestreben, das Terrain abzusichern, unweigerlich das Falsche tut. Gegen Recht und Gesetz bleibt ein berühmter Österreicher verbannt, anscheinend aus Furcht, daß er das Volk für neue Wege begeistern könnte. Dadurch riskiert man. daß nur Demagogen profitieren werden, falls es zu einem Debakel kommt.

Man hofiert die ehemaligen Nationalsozialisten und Deutsch-Nationalen, macht sich mit Verbeelens und Reders vor der Welt anrüchig und hat doch mit dem Versuch, sie für den Staat zu gewinnen, nur geringen Erfolg. Sicher ist es ebenso nobel wie klug, ehemalige Gegner zu versöhnen. Müssen dazu aber nicht zwei Voraussetzungen erfüllt werden? Erstens: Die Gegner müssen guten Willen haben und dürfen nicht darauf hoffen, sich noch einmal wie Schmeißfliegen an dem Siechtum des Staates mästen zu können. Zweitens: Man muß sie für den Staat, nicht für die Stärkung parteilicher Machtpositionen gewinnen.

Die große Gleichgültigkeit

Die großen Verdienste der Oligarchie, die im Staatsvertrag ihren Höhepunkt, aber keineswegs ihren einzigen Ausdruck fanden, müssen dankbar anerkannt werden. Deswegen kann sich der Besucher aber nicht suggerieren, daß ihr der Erfolg treu geblieben ist. Bundeskanzler Gorbachs Bekenntnis vom 29. September, das die Frankfurter Allgemeine Zeitung „bestürzend“ nannte, gab seinen pessimistischen Ansichten eine autoritative Bestätigung. Selbst in den sieben Monaten verblüffte ihn die ständig fortschreitende Teuerung. Er bemerkte das Scheitern der Südtirolpolitik, das ihm um so näher ging, als er an dem Schicksal der Südtiroler immer besonderen Anteil nahm. Hoffnungsvoll hört er von Ansätzen zu einer neuen Politik. Er nahm wahr, wie die Verhandlungen mit der EWG, die wohl Österreichs dringlichstes Problem sind, in eine Sackgasse zu geraten drohen und, kaum weniger gefährlich, wie die Benachteiligung des Verteidigungshaushaltes den Schutz der Neutralität gefährdet.

Aus allen diesen “ Gründen schläft der inzwischen nach den USA zurückgekehrte Besucher nicht gut, wenn er an Österreich denkt. Allerdings findet er etwas Trost in dem Glauben, daß die Vorsehung nicht Österreich, wie den Phönix aus der Asche wiederauferstehen ließ, um es wenige Jahre später an der Gleichgültigkeit seiner Bürger zugrunde gehen zu lassen.

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