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Eine Lanze für die Politiker

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WELTGESCHEHEN SEIT HIROSHIMA. Das Kräftespiel der großen Mächte. Von Hugh Seton-Watson. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln. 667 Seiten, 3 Kartenskizzen, 1 Qbersichtstabelle. Preis 164 S, Paperback 78 S.

Vor dem ersten Weltkrieg befaßten sich die Hiltoriker nur wenig mit den letztvergangenen Jahrzehnten, nicht nur, weil Geschichtsschreibung immer erst nach längeren Fristen möglich ist, sondern auch deshalb, weil die Neugierde nach den eben verflossenen Zeiten gering war. Anden nach den beiden Weltkriegen, da steigerte sich die Neugierde ins Ungemessene, und es ist begreiflich, daß jeder möglichst bald wissen will, wie alles so geschehen mußte. Hugh Seton-Watson versucht in seiner in London unter dem Titel „Neither War Not Peace“ erschienenen Publikation einen Abriß der jüngsten Geschichte, und er ist sich der Schwierigkeiten bewußt, die solchem Vorhaben entgegenstehen: sei es die Unzulänglichkeit der Quellen — die aber nicht nach des Autors Meinung „aus unerfindlichen Gründen“, sondern allgemein sehr überlegt gehandhabt wird — oder sei es das Fehlen der Biographien, die natürlich erst in etwa SO Jahren werden vorliegen können. Da man nun weder eine „Geschichte der diplomatischen Beziehungen“ noch eine „ernstzunehmende Geschichtsschreibung“ in Angriff nehmen kann, hat sich der Verfasser zur Methode entschlossen, „mit einer rein erzählenden Schilderung der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu beginnen, dann in eine kritische Untersuchung des Totalitarismus und des Imperialismus überzuleiten und mit einer Schilderung der letzten sechs Jahre zu schließen“.

Als grundlegende Probleme des 20. Jahrhunderts treten hervor: Bauer und Boden in den Agrarstaaten, die Beziehungen zwischen den industriellen Arbeitern und den höheren Industrieklassen, die Rolle der Intelligenz und Beispiele der revolutionären Machtergreifung. Nationalismus, Rassenprobleme und Kolonialpolitik werden hierbei berücksichtigt. Die 14 Jahre von 1945 bis 1959 sind eine kurze Zeit, und doch vermag man sie nur zu überblicken und zu verstehen, wenn man die politische Entwicklung aller Länder und die wirkenden Kräfte kennt. Das zu vermitteln gelingt Seton-Watson befriedigend dank der globalen Beherrschung der Materie und einer entwicklungsgeschichtlichen Analyse aller in unseren Tagen nicht mehr voneinander trennbaren Kontinente. Wer sich in deren Leben nicht hineindenken kann, wird im eigenen Land die echten Wurzeln des Geschehens nicht , erfassen. Das 667 Seiten starke Buch ist nicht zum bloßen Durchlesen wie bei einem Roman oder einer Reisebeschreibung bestimmt, vielmehr hat es alt unentbehrliches Nachschlagewerk zu dienen, das als Ereignischronik um so wertvoller ist, als neben Literaturangaben auch Karten und exakte Namen-, Orts- und Sachregister beigegeben sind. Die politischen Tagesereignisse gewinnen für den Gebildeten nicht im primitiven Momentaneindruck durch Rundfunk und Fernsehen Gestalt, sondern bloß im nachdenklichen Zusammenhang mit allem Vorangegangenen. Hier den Faden nicht zu verlieren, ermöglicht Seton-Watson durch geschichtliche Rückgriffe auch über 1945 zurück.

Der Verfasser widerstand nicht der Versuchung, seiner Chronik des Gestrigen einen Blick in das Morgen anzufügen, um einen geeigneten Standpunkt den Weltproblemen gegenüber zu finden, die sich jetzt auf die Spekulation über Hergang und Bewältigung des Atomkrieges zugespitzt haben. Seton-Watson rechnet mit Bertrand Rüssel ab, der recht unlogisch eine kommunistische Diktatur einer für ihn unvermeidbaren Vernichtung durch Atomkrieg vorziehen will; er erwähnt den „Neo-Petainismus“, der nur aus härtester Prüfung Heilung erhofft; er untersucht das Atomwaffenmonopol, die konventionelle Rüstung, den begrenzten Krieg und die Abrüstung: „Aber Waffen sind nicht die Ursachen der Kriege, sie sind die Werkzeuge der Konflikte, die durch politischen Haß und politische Verdächtigungen entstanden sind.“

Als Mann des Westens wünscht der Autor vor allem eine bessere Haltung der Demokratie, die an einen der Hebel des

Weltgeschehens gestellt ist: „Was offenbar gebraucht wird, ist eine Wiederherstellung der Achtung vor der Autorität... die Demokratie braucht führende Köpfe, und diese sollten nicht davor zurückschrecken, Befehle zu erteilen ... Wenn die Herrschaft des Konsumenten auf das gesamte politische Leben ausgedehnt wird, wenn jeder schöpferische Gedanke und alle Initiative als lächerlich betrachtet werden, wenn die einzig richtige Treuebindung die Bindung an die Clique ist — dann sehen die Aussichten für eine Massendemokratie westlicher Prägung düster aus... immerhin ist es noch möglich, umzukehren ... Der Charakter der meisten demokratischen Politiker stellt eine wechselnde Mischung von persönlichem Ehrgeiz und redlicher Sorge für das Gemeinwohl dar. Sie müssen ihren Kurs steuern zwischen dem Maximum an Opfern und dem Minimum an Forderungen... Für den erbitterten Bürger und für den akademischen Intellektuellen liegt die Versuchung nahe, über den demokratischen Politiker herzufallen ... Diese Uberschau der politischen Weltbühne schließt wohl am besten mit einem Gebet für die Staatsmänner der Demokratien: Mögen sie zu höherer Weisheit und größerem Mut finden als in den letzten 14 Jahren.“

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