Die Zynismen der WAHRHEIT

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Präsident trump versucht, seine umstrittensten Wahlversprechen wahr zu machen. Es ist Zeit für die Demokratie, ihre stärke unter Beweis zu stellen.

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Präsident trump versucht, seine umstrittensten Wahlversprechen wahr zu machen. Es ist Zeit für die Demokratie, ihre stärke unter Beweis zu stellen.

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David Hume, eine Lichtfigur der schottischen Aufklärung, hat in seiner "Untersuchung über die Prinzipien der Moral" massenpsychologisches Gespür bewiesen, als er meinte, der Mensch kenne eigentlich keine absoluten Werte, wie Fairness oder Gerechtigkeit. Vielmehr würden seine existenziellen und materiellen Zwänge und die Gesetze den Rahmen der Ethik schaffen. "Verändere in irgendeinem bedeutenden Umstand die Lage der Menschen", so Hume, "erzeuge äußersten Überfluss oder äußerste Not; pflanze in ihr Herz vollkommene Bescheidenheit und Menschlichkeit oder vollkommene Habgier und Bosheit; indem man auf diese Weise die Gerechtigkeit gänzlich nutzlos macht, vernichtet man zugleich vollkommen ihr Wesen und hebt ihre Verbindlichkeit für die Menschen auf."

Der Mensch, ein immer aufs Neue veränderliches Wesen, mal hierhin, mal dorthin getrieben, niemals stet, gut auch nur dann, wenn es die Fügung der Geschichte gerade einmal erlaubt? Als vollkommen verfehlt würden das jene bezeichnen, die an das Gute im Individuum glauben und an die Möglichkeiten der höheren Entwicklung des Menschen in seiner Zivilisation.

Herrschaft des Lustprinzips

Trotzdem spricht viel für Humes Standpunkt. Wer die Geschichte des Faschismus in Europa betrachtet, kann mit seinem Satz von der Relativität der Ethik sehr viel erklären. Und er gehorcht tatsächlich auch einer psychologischen Logik: Sobald die Über-Ich-Struktur einer Gesellschaft - das sind Politik, Gesetze und Medien -den Individuen ein Verhalten nahelegen, das Unmenschlichkeit und die impulsiven Regungen des Lustprinzips erlaubt und fördert, wird eine große Anzahl dieser Menschen nicht davor zurückschrecken, unmenschlich zu werden.

Diese scheinbar zynische Ansicht Humes birgt hinter ihrer ernüchternden Fassade eine Rampe zu einer überraschend positiven Perspektive: dass nämlich Politiker und ihre Gesetze gerade wegen dieser ethischen Beliebigkeit umso wichtiger sind. Sie formen nicht nur den Rahmen unserer Existenz, sondern auch wichtige Teile unserer gelebten Werte.

Wie sieht das nun aus in einer Zeit, die von einigen "postfaktisch" genannt wird, weil Illusionisten und Realitäts-Verdreher so schöne Erfolge feiern, gerade bei Wahlen? Müssen wir das Zeitalter der Lüge auszurufen? Oder zu dem jüngst aus Donald Trumps Sprachrohren abgefeuerten Begriff der "alternativen Fakten" konvertieren? Nicht unbedingt.

Zum einen, weil sich die Menschen oft so inszenieren, als wäre das, was sie sagen ganz frisch, während es in Wirklichkeit doch ganz abgelegen und statt brandneu längst schon abgefackelt ist. Ganz so scheint es jedenfalls mit dem Postfaktischen im Trumpschen Zusammenhang zu sein. Gab es je eine Zeit, in der in der Politik nicht gelogen wurde, dass sich die Balken biegen - und zwar erfolgreich gelogen?

Zum anderen, weil oft das Gegenteil des Behaupteten schlüssiger erscheint. So betrachtet könnte man an der Person Donald Trump sogar zur Ansicht gelangen, dass die Wahrheit heute viel offener zu Tage trete, als in den angeblich "faktischen" Zeiten unter den Präsidenten Lincoln bis Obama.

Blindfahrten des Kapitals

Seit dem 20. Jänner ist Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten. Und tatsächlich macht er wahr, was er im Wahlkampf versprochen hat. Er will wirklich seine Mauer gegen Mexiko bauen. Er legt sich tatsächlich mit dem Establishment an, vor allem mit den Geheimdiensten. Er verfolgt seine Gegner mit überbordendem öffentlichem Hass, seien es nun Journalisten, Schauspieler, Beamte oder Bürger, die gegen ihn demonstrieren. Er wird sich an seinem Amt bereichern wollen und er pfeift auf die Moral und die Zurückhaltung bisheriger Politik.

So stellte er unter anderem sein Unternehmen und sein Kapital nicht ruhend, wie andere Präsidenten das vor ihm getan hatten, um nicht durch Eigeninteressen das Amt zu kompromittieren. Zudem kündigte er an, die Regulierungsbestimmungen für die Finanzmärkte abschaffen zu wollen, die nach der Krise 2008 eingeführt wurden. Das ist eine Art finanzielle Konterrevolution -zugunsten der Reichen oder -makroökonomisch gesehen -der nächste Großfeldversuch mit "Wachstum um jeden Preis" Terrain zu gewinnen. "To make America Great Again" auf die amerikanischste Weise eben.

Das alles ist nicht postfaktisch. Es ist keine Lüge und keine List, es ist viel gefährlicher als das: Die Wahrheit. Vielleicht war der Hintergrund unseres Redens über das Postfaktische bloß die Hoffnung, Trump möge seine Versprechen nicht wahrmachen. Weit gefehlt. Trumps Wahrheit ist schlicht und wirkungsvoll. Sie lautet, dass der Gewinner alles bekommt. Die USA und wir mit ihnen, könnten bald dem Wesen des Kapitals in seiner reinen durch Gesetze unbehelligten Natur ausgesetzt werden: Es kennt keine Moral, es ist unersättlich, es neigt zur Akkumulation und heftet sich magnetisch an bereits vorhandenen Reichtum.

Aristoteles hatte so gesehen in einem oft verlachten Punkt seiner Abhandlung über die Oikonomia recht: als er die Räuberei zu den normalen Berufen zählte. Und selbst Aristoteles-Verächter Karl Marx scheint sich dem Griechen da anzunähern, wenn er schreibt, dass sich der Reichtum bloß aus Recht und Arbeit rekrutieren, während die Wirklichkeit sich aus Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt zusammensetzt. Diesen Charakter wird das Kapital in den USA -und damit wohl auch wieder weltweit -in den kommenden Jahren nicht mehr leugnen. Denn es hat ja -frei nach Trump - gewonnen.

Die Macht der Demokratie

Und wer definiert nun den Begriff der Gerechtigkeit, wenn nicht gerade der Gewinner? In diesem Sinn leben wir in der Totalität des Faktischen. Und nun stellt sich die Frage, ob denn dies alles ein hoffnungsloser Fall sei, politisch und ökonomisch und moralisch ohnehin. Ganz und gar nicht. Denn nun, wo so viele die Demokratie gefährdet sehen oder zumindest kompromittiert und sturmreif geschossen durch die populistischen Reiter, nun kann sich die Qualität der Demokratie zeigen. Donald Trump ist durch seine Wahl kein absoluter Herrscher geworden. Er kann den überwiegenden Teil seiner Politik nur mit der Hilfe demokratischer Institutionen verwirklichen.

Und ob es nun das Repräsentantenhaus oder der Senat in Washington ist, sie sind die eigentlichen Gegenspieler des mächtigsten Politikers der Welt. Sie allein lassen seine Gesetze passieren und bringen sie zu Fall. Und wenn schon der neue Präsident eine Verschiebung der politischen Ethik in Richtung Unrecht, Radikalismus und Kurzsichtigkeit vertritt, dann haben Senat und Repräsentantenhaus immer noch die Macht, das nicht zuzulassen.

So kann man, wenn man optimistisch sein möchte, also auch zu dem Schluss kommen, dass die Demokratie der USA seit Jahrzehnten selten eine so große Chance gehabt hat, sich zu beweisen. Ihre Institutionen sind die einzigen Dompteure des Präsidenten und die Steuerräder an Humes Gesetz. Jedes Futzelchen der Gesetze Trumps muss vom Repräsentatenhaus vorgeschlagen werden, der Präsident allein hat kein Initiativrecht. Und das sind dann doch etwas stabilere Aussichten, wenn schon nicht für den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, so doch für die Vereinigten Staaten von Amerika selbst und die Welt.

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