Wo die Hoffnung KRIEG FÜHRT

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Wie irrationale Erwartungen das Geschehen in Syrien bestimmen, und wie die Analyse antiker Schlachten zum Frieden beitragen könnte.

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Wie irrationale Erwartungen das Geschehen in Syrien bestimmen, und wie die Analyse antiker Schlachten zum Frieden beitragen könnte.

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Die Ansicht, wonach der Mensch von Geburt an eigentlich gut und edel sei, hat sich in der Geschichte als gut gepflegte und oft gefeierte Meinung niedergeschlagen, vor allem, wenn es darum ging, die ideale Gemeinschaft mit idealen Menschen zu ersinnen. Der perfekte kommunistische Mensch ist demnach sozial bestrebt und arbeitsam, das überwachende Politbüro uneigennützig und moralisch standhaft. Der neoklassischkapitalistische Mensch wiederum hätte alle Informationen um sich rational zu entscheiden und könnte auf diese Weise eine schöne freie Welt und Gesellschaft schaffen - und das ganz ohne Politik.

Die Geschichtsschreibung kennt ähnliche Mechanismen. Manche Völker werden da als leuchtende Vorbilder porträtiert. So etwa die "Erfinder der Demokratie", die alten Griechen, die meist als rationale, lebensfrohe Anhänger einer ausgeglichenen, nach der philosophischen Mitte strebenden Gesellschaft dargestellt werden. Doch wäre das Gegenteil an der griechischen Geschichte ebenso ablesbar. Machtgier, Tyrannis und Terror gehörten ebenso zu den gestaltenden Elementen Athens wie die Weisheit von Platon und Aristoteles. Ausgerechnet dieses weniger beachtete, dunkle Element unserer Vorfahren kann sehr nützlich sein, will man gegenwärtige Konflikte analysieren, etwa jenen in Syrien. Ob sich aus einer geschichtlichen Perspektive etwa Möglichkeiten einer friedlichen Lösung des blutigen Chaos ableiten ließen. Als historisches Beispiel, das gerade wissenschaftlich von Verhaltens- und Erwartungstheoretikern untersucht wurde, ließe sich das Schicksal der Insel Milos in der Ägäis heranziehen.

Milos und die Athener

Im Jahr 416 vor unserer Zeitrechnung wurde Milos von den Athenern angegriffen. Letztere wollten im Zuge ihres Krieges gegen Sparta die kampflose Übergabe der Insel und ihrer befestigten Stadt erreichen und boten folgenden Deal an: Kapitulation und Vasallentum der Melier gegenüber Athen. Als Gegenleistung wollten die Athener "großzügig" garantieren, dass es nicht zu Mord, Brandschatzungen und zu den für Eroberungen üblichen Grausamkeiten käme. Den Verhandlungsprozess hat der Geschichtsschreiber Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges aufgezeichnet. Die Athener beharren darin auf dem "Recht des Stärkeren". Sie argumentieren wie folgt: "Recht besteht nur zwischen gleich Starken, bei ungleichen Kräfteverhältnissen tut der Starke, was er tun kann, und erleidet der Schwache, was er erleiden muss."

Wer sich in Syrien umsieht, wird leicht die Herrschaft des gleichen Prinzips feststellen. Thukydides Szenerie aus dem Peloponnesischen Krieg - ausgedehnt auf 185.000 Quadratkilometer mit gezählten 34 Streitparteien und Konkurrenten, darunter Weltmächten und ihren Stellvertretern ebenso wie regionalen Banditen und einfachen Kriminellen. Die meisten dort tätigen bewaffneten Gewalttäter beharren auf jenem Recht der Stärke, das auch die Melier zu spüren bekamen.

Dieses Recht ist natürlich nicht Recht im Sinne von Rechtsstaatlichkeit sondern das Gegenteil davon. Der Krieg löst diesen Widerspruch, indem er den Raechtsstaat einfach wegwischt. Sigmund Freud hat das in seiner Abhandlung "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" so formuliert: "Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde. Er bedient sich der List, der Lüge, des absichtlichen Betrugs gegen den Feind. Er löst sich von Zusicherungen und Verträgen, bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Machtstreben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll."

Wie ist das nun in Syrien? Dort gibt es die von Freud angesprochenen Mechanismen auf zahlreicher Ebene und in wechselnden Koalitionen. Ergebnis: An die 10 Millionen Menschen von insgesamt 20 Millionen wurden vertrieben, 230.000 getötet, eine Volkswirtschaft zerstört - eine ganze Region destabilisiert. Zu wessen Nutzen aber?

Geht es nach der Erwartungstheorie, dann hat das weniger mit Nutzendenken zu tun, als mit Denkirrtümern. Kehren wir noch einmal nach Milos zurück, oder besser nach Princeton/USA, wo sich zwei Wissenschafter der dortigen Universität, Josiah Ober und Tomer Perry mit den Grundlagen der Erwartungstheorie bei Thukydides auseinandergesetzt haben. Es ging ihnen um die Analyse, wer sich in einer bestimmten Situation wie verhält. Etwa, wenn Gefahr droht. In Drangsituationen, so Ober und Perry, machen Menschen seit Anbeginn der Geschichte ähnlich strukturierte Fehlentscheidungen, weil unter dem Eindruck der Gefahr nicht rational begründete Erwartungen (Wahrscheinlichkeiten), sondern Hoffnungen die Analyse bestimmen.

Die Götter und die Hoffnung

So auch in unserem Beispiel: Unter dem Druck der Athener, unter der Drohung von mehreren tausend feindlichen Kämpfern vor ihren Mauern, wie entscheiden sich da die melischen Führer? Sie setzen ihre Hoffnung auf die Götter und schlagen das Angebot der Athener aus. Die Entscheidung ist also - so betrachtet - irrational. Die Verhaltenstheoretiker Ober und Perry sehen darin einen "Optimismus-Irrtum": Je schlechter die Aussichten auf Erfolg, desto höheres Risiko sind Menschen bereit zu nehmen, um sich durchzusetzen.

Dieses Muster ist auch in Syrien zu erkennen. Allen Kriegsparteien droht dort langfristig eine Niederlage: den Assad-Truppen wie den Kurden, der Al Nusra-Front ebenso wie dem IS. Und alle leiten aus dieser hohen Gefährdung das höchste Risiko in ihren Aktionen ab: Es gibt Bombardements, Folter, Vergewaltigungen, Giftgasangriffe anstatt Verhandlungen zu suchen, welche das Schlimmste, Tod und Vernichtung, vermeiden könnten. Eine Ausnahme von der Logik bilden Gruppierungen wie der IS, denen der Tod das höchste Ziel ist. Sie können kein Interesse an einem Frieden haben, weshalb sie bis auf Widerruf auch nicht Teil einer Verhandlungslösung sein können. Ganz anders hingegen die Clans und Milizkommandeure, die einzelne Distrikte, Städte und Dörfer beherrschen und wechselnde Koalitionen (selbst mit dem IS) eingehen. Sie lassen sich eher beeinflussen und unter Druck setzen, und vermutlich ist das auch beim Assad-Regime der Fall.

Der Pessimismus-Irrtum

Um einen Kreislauf der "Optimismus-Irrtümer" zu brechen und der Eskalation entgegenzuwirken, so Perry und Ober, muss es Druck von außen geben. Mächte, die als noch mächtiger eingeschätzt werden als der regionale Gegner - und die entsprechende militärische und finanzielle Mittel haben. Historisch gesehen stellte das römische Imperium eine solche Macht dar, das mit seinen Legionen tatsächlich eine "pax romana", einen 300-jährigen Völkerfrieden im Reich halten konnte, der von Augustus bis Marc Aurel andauerte. Gefragt wären also im Fall Syriens die Weltmächte USA und Russland.

Doch die scheinen derzeit einem "Pessimismus-Irrtum" zu unterliegen: die Angst vor falschen Entscheidungen hemmt die Aktion, obwohl entschiedenes Handeln wesentlich bessere Erfolgsaussichten hätte. Es gibt also Waffenlieferungen, Bomben auf IS-Stellungen und Militärberater statt politischer Strategie. Was wären nun Möglichkeiten des Handelns: Russland könnte den Iran und Assad unter Druck setzen, den Weg zu Verhandlungen einzuschlagen. Auf Seiten Teherans bestünde offenbar Interesse, zumindest hat das der iranische Außenminister Dschawad Sarif zuletzt offen angesprochen. Letztlich müsste vor Verhandlungen mit dem Iran und Assad aber eine zentrale Frage geklärt werden: Soll und darf man Kriegsverbrechern des Regimes eine Amnestie anbieten, um das Morden zu beenden?

Gleichzeitig müssten die USA die syrische Opposition dazu bringen, in Verhandlungen ohne Vorbehalt einzusteigen. Zudem müsste Washington seinen Einfluss auf Saudi Arabien, den Oman und die Türkei geltend machen, die an der Eskalation des Konflikts maßgeblich beteiligt waren und sind. Ohne gemeinsame Vorgangsweise der USA und Russlands ist aber keiner dieser Schritte denkbar und auch ein militärischer Sieg über den IS kaum möglich. In Summe würde eine Fortsetzung der Irrtümer mehr Tote, mehr Flüchtlinge in Europa bedeuten und in Syrien selbst die perfekte Katastrophe. Thukydides beschreibt ein solches Ende: Die Entscheidung der Melesier zum Krieg in der Hoffnung auf den Beistand des Zeus führt zu Invasion und Belagerung, zu Hungersnot und schließlich zur Kapitulation, zur Hinrichtung aller Männer und Versklavung der Frauen und Kinder. Und das alles, schließt Thukydides allgemein, weil "die Menschen das, was sie begehren, unbedachter Hoffnung überlassen". Weniger blumig formuliert, müsste man sagen: Erst wo die Hoffnung auf Sieg vernichtet ist, kann der Frieden gewinnen. In Syrien gilt das auf jeden Fall.

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