Zur Notwehr verpflichtet

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Die internationale Staatengemeinschaft wird in Syrien nicht militärisch aktiv werden. Wem das bisher nicht klar war, der hat seit Dienstag Gewissheit, da die NATO entschied, es nach dem Abschuss eines türkischen Flugzeuges durch die syrische Armee bei einer zahmen Warnung bewenden zu lassen.

Im Hintergrund argumentieren vor allem die USA mit der sogenannten "Stabilität“ in der Region. Diese Stabilität ist offenbar am besten gegeben, wenn man der Instabilität des Bürgerkriegs ihren Lauf lässt. Mischte man sich ein, so das Argument, man würde einen Konflikt mit Bashar al-Assads Schutzmacht Iran riskieren - und damit einen Flächenbrand in der krisenanfälligsten Region der Welt. Auch das gespannte Verhältnis der NATO zu Assads Waffenlieferant Russland steht auf dem Spiel. Warum also Öl ins Feuer gießen?

Diese weltpolitische Argumentation wirkt einleuchtend, aber nur so lange man sich nicht mit den grausigen Details dieses Bürgerkriegs beschäftigt. Denn da wird der moralische Nachgeschmack mit jedem Tag bitterer. Die Massaker werden nicht enden, die berüchtigten Shabiha-Milizen Assads haben mit ihrem Mordwerk gerade erst begonnen. Sie sind in ihrer Gnadenlosigkeit und Brutalität nicht zu stoppen, es sei denn mit Maßnahmen, die das Töten, Brandschatzen und Vergewaltigen wirksam bestrafen.

Reines Wunschdenken

Gleiches muss auch für ihre Auftraggeber in Damaskus gelten. Sanktionen, die für das Regime nicht spürbar sind, wie die derzeit von der EU verhängten, werden auch weiterhin nicht das Geringste bewirken.

Gerne versuchen westliche Politiker, die Flucht von insgesamt 300 Soldaten, drei Generälen und drei Kampfpiloten samt ihren Jets als "Auflösungserscheinung“ der syrischen Armee darzustellen. Doch schon eine einfache Recherche enttarnt das als reines Wunschdenken. Selbst wenn man zu den ins Ausland Geflohenen noch einige tausend Mann dazurechnet, die zu den Aufständischen übergelaufen sind, handelt es sich um eine verschwindend geringe Zahl, bedenkt man, dass in der syrischen Armee über 400.000 Mann unter Waffen stehen.

Sicher ist also, dass bei einem fortgesetzten Nicht-Eingreifen der NATO dieser Konflikt noch sehr lange dauern kann und Tausenden weiteren Unschuldigen das Leben kosten wird. Wir werden weiter Bilder von ermordeten Frauen und Kindern sehen, weiter von den ungeheuerlichsten Grausamkeiten hören und lesen - und wir werden uns weiter selbst beruhigen müssen: "Wenn wir eingreifen, passiert noch viel Schlimmeres.“ Politiker der NATO-Staaten werden außerdem sagen: "Unser Volk kann nicht noch einen Krieg führen. Afghanistan ist schon genug.“

Entscheidende Fragen

Aber die nächsten Monate werden ein Problem aufwerfen, das über die Frage hinausreicht, ob Krieg in einer westlichen Gesellschaft überhaupt noch als Mittel der Politik infrage kommt, da wir einer Menschlichkeit gehorchen, die töten und morden richtigerweise kategorisch ausschließt.

Die Bilder und Berichte aus Syrien werden unweigerlich zu der Frage führen, ob wir, die Zeugen von so viel Gewalt und Unterdrückung nicht selbst durch unsere Untätigkeit schuldig werden. Ob wir nicht die Pflicht haben, wirklich alles in unserer Möglichkeit Stehende zu tun, um das Gemetzel zu stoppen, das täglich auch uns besudelt. Ob wir nicht zur Notwehr verpflichtet sind, selbst unter der Gefahr einer kurzfristigen Verschärfung des Konfliktes.

Die Einrichtung einer militärisch verteidigten Schutzzone für Zivilisten sollte deshalb nicht nur beiläufig im NATO-Hauptquartier besprochen, sondern auch tatsächlich geplant werden für den Tag, an dem der Ernstfall eintritt, der ein Eingreifen unerlässlich macht. Vielleicht gilt gerade im syrischen Zusammenhang mehr als sonst, dass, wer den Frieden will, sich zum Kriege rüsten muss.

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