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Algerischer „Sozialismus”

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Das Regime des Oberst Boumedienne äußerte sich erstmals seit Ben Bellas Sturz offiziell zur neuen algerischen politökonomischen Linie. „Marxistische Länder müssen ihre Grenzen für einige Jahrzehnte hermetisch schließen, meist unter wirtschaftlicher Autarkie leben, die persönliche Freiheit ihrer Bürger zuweilen aufheben, ja diese der Diktatur unterwerfen, um nach einem halben Jahrhundert vielleicht eine sozialistische Volksmentalität als Frucht zu ernten.” Diese Gewaltkur könne man Algeriern nicht zumuten.

Erst ein „Vorplan”

So erklärte der algerische Finanzminister Kaid Ahmed in einem gestellten Interview dem Zentralorgan der FLN-Partei „La Revolution Africaine”, nicht ohne mehrfach die in Algerien amtlich vorgeschriebene Floskel zu wiederholen, daß die Entscheidung für den „sozialistischen Weg” nichtsdestoweniger unwiderruflich sei. Zweifellos enthüllte der nicht eben im Rufe eines Theoretikers stehende ehemalige Major einige Abschnitte des unter Boumediennes Ghost-Writers und Chefideologen Cherif Belkassem entstehenden neuen Parteiprogramms.

Anlaß zu den Grundsatzoffenbarungen war Algeriens erster wirklicher Ansatz zu einer Gesamtwirtschaftsplanung seit Erringung seiner Unabhängigkeit vor dreieinhalb Jahren, wozu freilich zahlreiche Voraussetzungen fehlen. So verfügt das Land seit dem Freiheitstage über keine ernst zu nehmende Statistik mehr. Deshalb soll es erst einmal mit einem Vorplan versucht werden. Seine Hauptziele seien die „Schaffung günstiger Bedingungen”, um drei Millionen Arbeitslose (wobei der Minister allerdings Frauen und Halbwüchsige mitgezählt haben dürfte) zu beseitigen, Arbeitsplätze für jährlich zuwachsende weitere 100.000 Erwerbstätige zu schaffen, die Kluft zwischen städtischem Luxus und ländlichem Elend auszugleichen (Durchschnittseinkommen der Kleinbauern 250 Dinar gleich 200 DM pro Jahr) sowie Einheimische zu Technikern auszubilden. Ihr Mangel ist so eklatant, daß sogar die früheren Haushaltrückstellungen für staatliche Investitionen bisher nicht verwendet werden konnten. Es war niemand da, der etwa Bewässerungsarbeiten oder Bodenameliorationen hätte in die Hand nehmen können. Nur auf der Hälfte der ländlichen Nutzfläche werden moderne Produktionsmethoden angewendet — das heißt auf den enteigneten ehemaligen Kolonistenfarmen —, während traditionelle Mittel- und Kledn- anwesen mit einer nach wie vor lähmend in der Schwebe gehaltenen Bodenreform sowie 65 Millionen Dinar Investitionshilfe für 1966 rentabel gemacht werden sollen. Im übrigen haben „sowohl Landwirtschaft wie Schwer- und auch Leichtindustrie”, schließlich noch weitere Sektoren „unbedingten Vorrang” — zumindest eine recht widersinnige Ausdrucksweise. Realismus dagegen spricht aus der Feststellung, daß das erforderliche Auslandskapital nicht aus Menschenliebe ins Land fließt.

Zuteilungen — „einfach verfressen”

Auch das neue Regime vermag nicht zu erkennen, daß man „Kapitalismus” — mit dem der Minister, so scheint’, recht gerne liebäugelt; wäre dies nicht so „verwerflich” — kaum dosieren kann. Privatkapital fließt seihst dann nicht zu, wenn es vor Sozialisierung geschützt ist, es sei denn, die gesamtwirtschaftlichen — und politischen — Bedingungen sind eben mehr oder weniger nach „kapitalistischem” Geschmack. Aber gerade in dieser Geschmacksfrage äußert sich Kaid Ahmeds ganzer Sozialismus: Was die „marxistischen Länder” mit entsprechenden Lebensbedingungen vom Volke erzwingen, will Algerien „geistig” angehen. Staat und Partei sollen das Gruppen- und Kollektivbewußtsein formen, danach könne man aus dem vollen planen, denn die Planung entspricht ja fürderhin automatisch dem Volkewillen. Auch ohne Marxist zu sein — dessen Grundthese: Sein formt Bewußtsein, ins Gegenteil verkehrt wird — glaubt man sich in die Zeit der utopischen Weltverbesserer des 19. Jahrhunderts zurückversetzt. Selbst Kaid Ahmed hat kein Vertrauen in seine Formel. Fragt er sich doch im gleichen Atemzug, wie er die 65 Millionen an die Kleinbauern verteilen soll, „ohne daß das Geld einfach verfressen wird”. Die Antwort wagt niemand zu geben: durch freigelas- senen Erwerbssinn oder eben einen Kommissar in jedes Dorf.

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