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„Irgendwo liegt eine unbegrabene Leiche… “

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Für jemanden, der persönlich die Schrecken des Nationalsozialismus oder die Greuelherrschaft des Kommunismus erlebt hat und zugleich bemüht ist, demokratisch zu denken, bereitet Spvofgegangenen autoritären Regime beherrscht wird — eigentlich eine Ueberraschung. Militärische und sonstige Paraden sind nirgends zu sehen, die Uniformen sind selten, einen Offizier in Uniform zu begegnen ist fast unmöglich. In den Buchhandlungen sieht man überall Werke von Ortega y Gässet ausgestellt, die polizeilichen Grenz- und Anmeldeformalitäten sind nicht größer als irgendwo in Europa. Kritik an der Regierung wird zwar in der Oeffentlichkeit nicht geübt, aber in kleineren Kreisen sprechen sich die Spanier darüber recht offenherzig aus. Frei und augenscheinlich ohne jede Polizeikontrolle kann man sich im ganzen Staatsgebiet bewegen.

Trotzdem machen die Spanier nicht den Eindruck eines glücklichen und zufriedenen Volkes. Ein gewisses Unbehagen ist überall zu spüren. Die Ansicht, die gegenwärtige politische Lage stelle nur ein Provisorium dar, scheint weit verbreitet zu sein. Und die Sorge, wie das alles wohl enden werde, beherrscht viele Menschen. Aber diejenigen, die ein Ende herbeiwünschen, sind nicht imstande, eine konkrete und praktisch durchführbare Alternative zu dem gegenwärtig herrschenden System aufzustellen.

Die Angst vor jedem gewaltsamen Umsturz sitzt tief im Volk, rechts wie links, ganz abgesehen davon, daß auch — machtpolitisch betrachtet — niemand einen Umsturz für möglich hält. Dem Oesterreicher,. der die schweren Kämpfe zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten in der Ersten Republik erlebt hat und heute dieselben Parteien in der Regierung Zusammenarbeiten sieht, könnte vielleicht in den Sinn kommen, eine ähnliche Lösung auch für Spanien vorzuschlagen. Doch wäre dies reine Theorie, weil die Flamme der Ressentiments, die der Bürgerkrieg voll entfacht hat, vielfach noch machtvoll lodert. Eine rechts wie links tief eingewurzelte Neigung, die Politik ganz und gar mit der Weltanschauung zu identifizieren, das ständige Hervorheben, von Prinzipien — eine Erscheinung, die besonders im spanischen Norden zutage tritt — würde jedes Gespräch und jede gemeinsame Arbeit problematisch machen. Menschen aller politischen Richtungen erscheinen sehr oft wie blind für das Konkrete, für die konkreten Bedürfnisse des Volkes. So kommt es auch, daß der Mann aus dem Volke heute wieder einmal den Eindruck hat, er stehe allein und verlassen in seinem täglichen Kampf mit den immer höher steigenden Preisen, vor allem der Lebensmittel.

Die zweifelsohne sehr zahlreichen Anhänger, die heute die monarchistische Idee hat, scheinen bei weitem nicht alle nur aus Liebe der Monarchie anzuhangen; sehr oft tun sie es aus der Ueberzeugung heraus, daß bei dem faktisch herrschenden Machtverhältnis nur ein König das Staatswesen öhne Erschütterung aus dem gegenwärtigen Immobilismus herauszuführen imstande ist. Der Thronprätendent und sein Sohn wollen sich jedoch nicht auf Leben und Tod an die Diktatur binden; daher bleibt es recht zweifelhaft, ob Franco — ein zwar konservativ denkender, aber der Ideenwelt einer mehr oder weniger paternalistisch ausgerichteten Diktatur unbedingt anhängender Mann — je den Zugang zum Thron freigeben wird. Und dies scheint ein Grund mehr für das Unbehagen zu sein, das im Lande weitverbreitet ist.

Sehr oft wird alles, was nicht in das gegenwärtige Konzept paßt, als gegen „die spanische Tradition” gerichtet abgetan. Was aber dieser fast magische Begriff beinhalten sollte, das ist nur selten genau anzugeben. Manchmal hat man im Gespräch fast den Eindruck, als ob für manche eben alles, was die gegenwärtige Lage mit sich bringt, dieser Tradition entsprechen würde. Dabei ist zu beachten, daß das Land zum Beispiel keine althergebrachten Gesetze besitzt und daß gewisse Grundlinien der gegenwärtigen Außenpolitik (zum Beispiel die Araberfreundschaft der Madrider Regierung) der spanischen Tradition und ihren vornehmsten Ueberlieferungtn geradezu widerspreche .; Das gute Verhältnis zwischen Spanien und dem Vatikan ist in der- Geschichte oft getrübt worden, und zwar nicht selten von Koni-, gen, zu denen gerade die gegenwärtigen Hüter des spanischen Traditionalismus gerne auf- blicken. An Bürgerkriegen ist die Geschichte des Landes reich, ebenso an Aufständen und Kämpfen um alte Landes- und Kommunalfreiheiten. Man braucht nur Menendez P e 1 a y o, den unvergleichlichen Altmeister der spanischen Geschichtsschreibung und des spanischen Traditionalismus, zu lesen, um zu merken, daß bedeutende Spanier recht oft entgegengesetzte Meinungen vertreten haben. Eine Revision des Traditionsbegriffes schiene daher notwendig, doch ist davon im Lande kaum etwas zu verspüren. Die Spaltung scheint übrigens mitten durch das Volk zu gehen, und viele konservativ gesinnte Spanier versichern, die Lage habe sich diesbezüglich seit dem Bürgerkrieg kaum geändert.

Mit diesen Gegebenheiten der politischen Lage muß selbstverständlich auch die Kirche rechnen. Sie stellt, zusammen mit der Armee, die wirkliche Stütze des Regimes dar. Die spanische Kirche steht zu dem gegenwärtigen Regime. Sie tut es nicht aus prinzipiellen oder gar dogmatischen Gründen, wie das zum Beispiel von protestantischer Seite oft vermutet wird. Sie steht zu Franco vor allem aus psychologischen Gründen und aus kluger Erwägung. Wenn sie den Eindruck bekäme, daß auch eine andere Regierungsform in Spanien möglich und diese Regierungsform zugleich bereit wäre und tatsächlich die Macht besäße, ihr dauernden Frieden und die Möglichkeit freier Entfaltung zu sichern, dann würde die spanische Kirche wahrscheinlich in ihrer politischen Haltung elastischer sein. Die bitteren Erfahrungen der Vergangenheit verwehren ihr jedoch jedes Abenteuer. Aber auch andere Umstände scheinen auf das Verhalten der Kirche in Spanien Einfluß zu haben. Manche der wichtigsten Bischofsitze befinden sich in oft recht abseits gelegenen Ortschaften. Hierarchisch bedeutsame Diözesen erstrecken sich nicht selten auf Gebiete, wo es unmöglich ist, die Erscheinungen des modernen Lebens direkt zu beobachten und in ihrer richtigen Bedeutung zu ermessen. Die Erzbistümer von Toledo und Tarragona, das heißt die zwei hierarchisch entscheidendsten Bischofsitze des Landes, haben ihre Sitze in heute völlig bedeutungslosen Landstädtchen. Madrid und Barcelona sind hingegen einfache Bistümer; ihre Bischöfe sind nicht Kardinale trotz der überragenden Bedeutung ihrer Sitze wie ihrer Territorien. In Barcelona behauptet man gelegentlich, die Madrider Regierung würde jede Verschiebung des hierarchischen Uebergewichts von Tarragona nach Barcelona als eine nicht ungefährliche Konzession dem katalonischen Autonomismus gegenüber auffassen.

Das Vorhandensein eines intentionell katholischen Staates hat den kirchlichen Organisationen viele neue Wege eröffnet. Die autoritäre Organisation dieses Staates hat aber den Katholiken auch manchen Weg der Betätigung versperrt. So ist ihnen zum Beispiel die politische Betätigung im christlich-demokratischen Sinn verwehrt. Die militanten Katholiken in der Regierung, wie sehr sie auch der katholischen Sache ergeben sind, stellen nur sich selbst dar und scheinen übrigens auch keine sehr große politische Erfahrung zu besitzen. Eine andere Gruppe ist bestrebt, Gedanken über die Möglichkeit einer christlichen Partei als Troisiėme force zwischen dem Sozialismus und dem Liberalismus-Konservativismus zu entwickeln. Die dieser Gruppe angehörenden Männer lassen gerne die Problematik des Bürgerkriegs beiseite und werfen dem spanischen Bürgertum vor, es sei ihm nicht gelungen, einen modernen Staat zu organisieren. Die jüngeren katholischen politischen Kreise wären wahrscheinlich imstande, eine Equipe zu stellen, die außen-, aber auch innenpolitisch „rein” wäre. Das trifft bei allen anderen Richtungen kaum zu.

Die spanische Universitätsjugend scheint einProblem für sich zu sein. Oft hört man die spanischen Studenten selbst klagen, daß die meisten ihrer Kollegen das Studium ausschließlich als ein Mittel für das Aufrücken in die höheren Schichten der Gesellschaft betrachten. Das Trinomium, das die meisten Studenten begeistere, sei: Frauen, Geld, Karriere. Vom Berufsethos soll nicht sehr viel zu verspüren sein.

Bei manchem Akademiker merkt man Anzeichen tiefer Indifferenz auch der Kirche gegenüber. Trotz des vielfach recht opferfreudigen Einsatzes gewisser katholischer Kreise scheint überhaupt die Indifferenz und Müdigkeit sich vieler zu bemächtigen. Es ist wahrscheinlich übertrieben, was ein spanischer Freund mir einmal sagte: „Es liegt in Spanien irgendwo versteckt eine unbegrabene Leiche, die Staat, Kirche und die gesamte Gesellschaft verpestet. Aber kein Mensch weiß, wo sie genau liegt und wie man sie unter die Erde bekommen könnte.” Uebertrieben oder nicht, dies scheint die Empfindung zumindest eines Teiles der Spanier zu sein, ganz abgesehen davon, ob sie rechts oder links stehen.

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