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Nicht jede Arbeit macht Freude

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Viele Fehlentwicklungen in der modernen Industriegesellschaft sagen uns: Wir sind auf falscher Fährte. Eine Neuorientierung verlangt behutsame politische und soziale Reformen, die nur durch „Versuch und Irrtum” ermittelt werden können.

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Viele Fehlentwicklungen in der modernen Industriegesellschaft sagen uns: Wir sind auf falscher Fährte. Eine Neuorientierung verlangt behutsame politische und soziale Reformen, die nur durch „Versuch und Irrtum” ermittelt werden können.

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Der Umbau der heutigen Erwerbsgesellschaft zu einer „nicht auf Arbeit zentrierten Tätigkeitsgesellschaft” mit Ideen wie einem von Leistung unabhängigen „Existenz” oder „Bürgergeld” mag vielen Menschen als irreal erscheinen. Nicht weniger utopisch ist allerdings die Annahme, daß der bisherige Weg der modernen Industriegesellschaft fortgesetzt werden kann, der im Wirtschaftswachstum den alleinigen Schlüssel zur Lösung aller Probleme sieht.

Die steigende strukturelle Arbeitslosigkeit ist aber nur ein - allerdings besonders beunruhigendes - Zeichen, daß etwas nicht stimmt. Unübersehbar ist zugleich, daß eine stete, globale materielle Wohlstandsvermehrung unter voller Ausnützung der modernen Technik ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit des Menschen und die Erfordernisse der Natur unsere Zivilisation, ja selbst die Existenz des menschlichen Lebens gefährdet. Wir befinden uns auf falscher Fährte und wir wissen es: Das sagen Wissenschaftler, die schwer abschätzbare, doch deutlich erkennbare Gefahren der modernen Industriegesellschaft - wenn auch zu oft in widersprüchlichen Aussagen - aufzeigen. Das machen Künstler deutlich, die Ängste und Orientierungslosigkeit unserer Zeit in vielfach hilflosem Protest zum Ausdruck bringen. Das wissen auch führende Persönlichkeiten der Wirtschaft, die vor dem drohenden Kollaps warnen. Das empfinden letzten Endes in immer stärkerem Maße viele Menschen jeglichen Alters unabhängig von Bildung, Interessen und Lebensumständen. Doch in unserem Verhalten nehmen wir das nicht zur Kenntnis - weder in der Gemeinschaft, noch als Individuum.

Dies ist nicht, wie so oft behauptet wird, die Schuld der Marktwirtschaft, die angeblich Habsucht und Konkurrenzneid fördert (als ob es diese Eigenschaften nicht ebenso im Feudalismus oder Staatskapitalismus gegeben hätte). Es liegt auch nicht an dummen oder verantwortungslosen Politikern. Die Ursachen der Fehlentwicklung sind vielmehr in der menschlichen Psyche zu suchen: Wir nehmen unerwünschte Entwicklungen, insbesondere auch Gefahren, umso weniger zur Kenntnis, je weiter sie in der Zukunft liegen. Viele Menschen tendieren dazu, eine mögliche Wurzelbehandlung in vielleicht drei Monaten in Kauf zu nehmen, wenn eine Zahnplombe heute vermieden werden kann. Diese Eigenschaft darf nicht nur negativ bewertet werden. Sie hatte durch Jahrtausende eine lebenserhaltende Funktion. Im Kampf ums tägliche Uberleben mußten Prioritäten gesetzt werden: Das zeitlich Naheliegende kam zuerst. Sicherlich waren Vorausblick und Vorsorge stets von großer Bedeutung. Doch der zu überschauende Zeitraum war noch vor wenigen Jahrzehnten sehr klein. Für die meisten war er mit Saat und Ernte begrenzt.

Vieles spricht dafür, daß unsere Denkweisen auf solche, in tausend Generationen gewonnenen Erfahrungen zurückzuführen sind und im Selektionsprozeß bestätigt wurden. Heute ist diese Haltung angesichts der überaus raschen Abfolge des Geschehens überholtund schädlich. Denn einerseits treten die Folgen eines Fehlverhaltens viel rascher ein, andererseits sind sie unvorhersehbarer. Sie erfordern ein frühzeitiges Handeln, ohne Kenntnis aller notwendigen Entscheidungsgrundlagen.

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