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Nichts als Verlierer

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Es gibt Volksabstimmungen, aus denen alle Beteiligten als Verlierer hervorgehen. Dies trifft auch für das Verfassungsreferendum in Frankreich zu. 12,8 Millionen Franzosen — das sind 61,8 Prozent der gültigen Stimmen — haben sich dafür ausgesprochen, daß der Staatspräsident in Zukunft in allgemeiner Wahl bestimmt wird.

Dieses Resultat bedeutet zunächst eine Niederlage für die oppositionellen Parteien. Wenn man von den 3 8 Prozent Neinstimmen die 25 bis 30 Prozent Stimmen der Kommunisten und jener abrechnet, die beim letzten Referendum der extremen Rechten angehörten, verbleibt für die Parteien der republikanischen Oppositionsfront von Guy Mollet bis Paul Reynaud nur mehr eine sehr schmale Basis. Wenn auch nicht jede Jastimme in den Legislativwahlen vom 18. und 25. November eine gaullistische Stimme sein wird, enthält diese Kalkulation doch eine bittere Pille für die Sozialisten, Radikalen, Volksrepublikaner und Unabhängigen.

Der zweite Verlierer heißt de Gaulle. Die Tatsache, daß nicht einmal jeder zweite wahlberechtigte Franzose, sondern nur 46,21 Prozent von der Rücktrittsdrohung des Generals zur Abgabe einer Jastimme veranlaßt wurden, muß den Staatschef nachdenklich stimmen, denn oh:ie Kubakrise hätte das Resultat peinlich ausfallen können. Nach allem, was vor dem Referendum aus informierten Kreisen über die Rücktrittslimite präzisierend durchgesickert ist, handelt es sich bei diesem Abstimmungsergebnis genau um jenes „schwache, mittelmäßige und zufällige“ Ja, von dem de Gaulle seinen Rücktritt abhängig machen wollte.

Zu den Verlierern gehört schließlich auch Frankreich. Die Abstimmungstopographie des Landes läßt eine dem Laufe der Loire folgende Linie zwischen Bordeaux und Grenoble erkennen, die Frankreich in eine nördliche Jahälfte und eine südliche Neinhälfte spaltet. Wirtschaftliche Sorgen, Bitterkeit der Algerienflüchtlinge und eine besondere republikanische und sozialistische Tradition haben offenbar den Widerstand gegen de Gaulle in den südlichen Departementen ansteigen lassen. Und dieser negativen Bilanz muß noch der Schaden zugerechnet werden, der durch das verfassungswidrige Revisionsverfahren und den gehässigen Zwist zwischen Institutionen der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt gestiftet wurde.

Was nun? Es ist zu verstehen, daß General de Gaulle viele Stunden über diesem Resultat meditiert hat. Die Lage ähnelt in beklemmender Weise der Situation vom Jänner 1946; jener Situation, in der es. „vergeblich und gar unwürdig“ schien, dem Geschäft des Regierens nachzugehen, „jetzt, da die Parteien im Wiederbesitz ihrer Kräfte ihre Spiele von einst wiederaufnahmen“. Erneut scheint sich die Alternative anzubieten zwischen dem „exklusiven Parteiensystem“ und der Diktatur, „von der ich nichts wissen will, und die zweifellos einen schlimmen Ausgang nehmen würde“.

De Gaulle hat nun vier Möglichkeiten: 1. Die endgültige Rückkehr nach Colombey; sie erscheint unsinnig in einem Moment, da er sich endlich, vom algerischen Krieg befreit, den großen außenpolitischen Aufgaben zuwenden könnte, an denen ihm so sehr liegt. 2. Die Abreise nach Colombey, um sich vom Volk zurückrufen zu lassen; dieser Plan ist jeäbch schon einmal mit schlechtem Erfolg durchgespielt worden. 3. Das rückhaltlose persönliche Engagement für die gaullistische Union im bevorstehenden Wahlkampf zur Erreichung der absoluten Mehrheit im Parlament; das Resultat vom 28. Oktober ist allerdings nicht ermutigend. 4. Die relative Zurückhaltung im Wahlkampf und die Ausschaltung eines vermutlich oppositionellen Parlamentes durch den Griff zum Notstandsartikel 16 unter tinem geeigneten Vorwand.

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