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Das Rätsel Ravel

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MAURICE RAVEL. Variationen über Person und Werk. Von H. H. Stuckenschmidt. Suhrkamp-Verlar. 306 Seiten. Preis 18 DM.

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MAURICE RAVEL. Variationen über Person und Werk. Von H. H. Stuckenschmidt. Suhrkamp-Verlar. 306 Seiten. Preis 18 DM.

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Bereits in seinem 1958 erschienenen Buch „Schöpfer der neuen Musik“ hat der bekannte Berliner Musikkritiker und Musikologe, der seit mehreren Jahren auch als Professor an der Technischen Universität Berlin tätig ist, dem großen französischen Komponisten eine sehr interessante und erhellende Studie gewidmet. Sie beginnt mit den Worten: „Es gibt keine rätselhaftere Figur in der Galerie neuerer Komponisten als die Maurice Ravels. Jeder Versuch, zwischen seiner Musik, dieser raffinierten, bald aufpeitschenden, bald dämonischen, bald sinnlich-kitzelnden Nerven- kunst und den bekannten Tatsachen seines Lebens eine Verbindung herzustellen, mündet in Ratlosigkeit.“ Eben dieses Rätsel und der Vorsatz, es soweit wie möglich zu lösen, mag H. H. Stuckenschmidt bewogen haben, sich immer wieder mit Ravel zu befassen und seinem Werk und seiner Persönlichkeit ein auf jahrelanger gründlicher Forschung basierendes Buch gewidmet zu haben. Diese, unseres Wissens erste deutsche Ravel-Monographie, hat die Form eines umfangreichen Essays: keine Kapiteleinteilung, keine separaten Werkanalysen, kein Register. Weiß man, welche Beherrschung der

Materie und was für eine hohe stilistische und formale Meisterschaft hierfür allein notwendig sind? So ist man angeregt, das ganze Buch in einem Zug zu lesen — und man liest es wie einen spannenden Roman. Denn obwohl Ravels Leben keinerlei Sensationen bietet, ist es überreich an gewaltigen inneren Spannungen, die sein unvergleichliches Werk bestimmen.

Da ist zunächst die Herkunft, das merkwürdig ungleiche Elternpaar: der am Ufer des Genfersees geborene Vater und die baskische Mutter, eine geborene Delouarte, die sich in Spanien kennenlernten. Sowohl die technische Begabung des Vaters wie die modischen Neigungen der Mutter, die als junges Mädchen das war, was man heute einen Mannequin nennt, vereinigen sich im Sohn und werden im Werk sublimiert. (Strawinsky nannte Ravel einmal spöttisch-anerkennend einen „horloger suisse“, und von Ravels Dandysmus wissen seine Freunde allerlei Unterhaltsames zu berichten, so zum Beispiel, daß er im Jahr 1928 auf eine fünf Monate dauernde Amerikatournee 20 Pyjamas und 50 pastellfarbene Hemden mitnahm.)

Sein gesamtes Werk ist gekennzeichnet durch Raffinement und Deutlichkeit. Der „Bolero“, Ravels berühmtestes Orchesterstück,

stammt aus der Sphäre, wo Musik, Exorzismus und Erotik miteinander verbunden sind. Aber in diese Welt gelangte Ravel nur mittels seiner Phantasie, seines Wunschdenkens, denn keiner seiner Freunde kann eine erotische Beziehung Ravels zu einer Frau bezeugen. Der Mann mit dem schönen, großen Kopf und dem zu kleinen Körper sublimierte seine unerfüllten Sehnsüchte in der von Sinnlichkeit knisternden „Spanischen Stunde", deren Held der robust-kräftige Maultiertreiber ist. — Ein anderer menschlicher Wesenszug Ravels manifestiert sich in „L’enfant et les sortilėges“. Hierüber sagt Stuckenschmidt: „Es ist in dem ganzen Charakter Ravels ein höchst eigentümlicher Zug von Vor- geburtlichkeit und von Kindlichkeit. Sein geistiges Reich ist zeitlebens eine differenzierte Kinderstube geblieben, in der es Märchen, Feen, Zauberer, seltsam vermenschlichte Tiere, Fabelgestalten aus Arabien, China und Afrika gab. Es ist das Reich der Phantasie, das den Menschen teilhaben läßt an den Wundern, Entzückungen und Über-

raschungen der Unberührtheit. Das Reich des Staunens und der sich verwischenden Grenzen.“ Hierzu paßt das Zeugnis, daß Ravel, der zeitlebens gewissermaßen vom Mutterschoß nicht loskam, durch den Tod seiner Mutter während des ersten Weltkrieges einen Schock erlitten hat, den er bis an sein Lebensende (1937) nicht überwinden konnte.

Ein weiterer merkwürdiger Widerspruch: seinem musikalischen Geschmack entsprach sein literarischer, der dem Exquisiten, Esoterischen und „Dekadenten“ galt (Ravel las nachweislich nur die Bücher von Mallarmėe, Baudelaire, Huysmans, d’Aurevilly, Verlaine, Poe und Wilde). Aber seine Wohnung in Montfort-l’Amaury mit dem schönen Garten, wo immer auch einige besonders schöne Siamkatzen umherspazierten, war angefüllt mit allerlei pittoreskem Kitsch, mit mechanischem Spielzeug, Nippes und Produkten minderen chinesischen Kunstgewerbes. Der Clou war ein falscher Renoir ...

Noch zahlreiche andere Charakterzüge wären anzuführen, der interessierte Leser mag sie in Stucken- schmidts Buch aufsuchen. Wichtig erscheint uns vor allem die intime Einfühlung in Ravels kompositorisches Werk und seine positive Wertung. Daß dies an einigen Stellen auf Kosten Debussys geschieht, ist der einzige kritische Einwand, den wir zu dieser ersten deutschen Ravel-Monographie machen müssen.

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