Die schwache Autorität der Schule

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Der Baseler Pädagoge Roland Reichenbach über Autorität als Tauschprozess in der Schule - und die abnehmende Loyalität der Eltern mit den Lehrern. Das Gespräch führte Doris Helmberger

Die Klage über die abnehmende Disziplin der Schülerinnen und Schüler und ihre schrumpfende Akzeptanz jeglicher Formen von Autorität ist Teil jeder Schuldebatte. Mit Recht? Roland Reichenbach, Pädagogik-Professor an der Universität Basel und Autor des Buches "Pädagogische Autorität“, nimmt im FURCHE-Interview dazu Stellung.

Die Furche: Autorität ist ein Reizthema - in der Pädagogik wie überall sonst. Woher kommt diese Emotionalität in der Debatte?

Roland Reichenbach: Im deutschsprachigen Bereich hat es viel mit der deutschen Geschichte zu tun. Dazu kommt allgemein, dass Autorität eine asymmetrische Beziehung bezeichnet und wir es uns in demokratischen Verhältnissen angewöhnt haben, Beziehungen immer symmetrisch zu denken - und sie auch so zu bezeichnen: Untergebene heißen etwa nicht mehr Untergebene, sondern Mitarbeiter. Es ist wichtig und eine Frage des Anstands, dass man Befehls- und Gehorsamsstrukturen kaschiert und inferiore oder superiore Positionen verschleiert. Diese Leitmoral übertragen wir auch auf die Pädagogik, wo wir es uns angewöhnt haben, von Partnerschaftlichkeit, Gemeinsamkeit und Partizipation zu reden - wobei es hinter diesem offiziellen Diskurs eben auch eine andere Realität gibt. Und zweitens ist Autorität ein Reizthema, weil man vielfach glaubt, dass sie vor allem mit Macht und Machtmissbrauch zu tun hätte und nicht einfach nur eine wechselseitige Abhängigkeit bedeuten würde.

Die Furche: Inwiefern ist der Lehrer von den Schülern abhängig?

Reichenbach: Er hängt von ihrem Goodwill und ihrer Zustimmung ab. Ein Autoritätsverhältnis ist immer ein Tauschverhältnis, und wenn man Kindern gegenüber Respekt und Interesse zeigt, ist das schon ein gutes Angebot. Natürlich ist die Idee, dass man durch Motivation und Psychologie ein Klima schafft, in dem alle völlig interessiert sind, eine totale Illusion. Und trotzdem gibt es ein Klima, das mehr oder weniger förderlich ist. Wenn wir uns etwa an die "Rütli-Schule“ erinnern (2006 hatten Lehrer dieser "Problemschule“ im Berliner Bezirk Neukölln mit öffentlichen Schilderungen ausufernder Schüler-Gewalt für Diskussionen gesorgt, Anm.), so haben die Schüler dort in Fernseh-Interviews deutlich gemacht, dass sie sich von dieser Gesellschaft überhaupt nichts mehr erwarten. Warum sollten sie sich also anstrengen? Eine Autorität hat dann Macht, wenn sie Belohnung glaubhaft in Aussicht stellen kann: in Form von Anerkennung, guten Noten, Lehrstellen, etc. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann wird es schwierig.

Die Furche: Über Disziplinprobleme wird aber nicht nur an Schulen in sozialen Brennpunkten geklagt. Entsprechend hohe Wellen hat 2006 Bernhard Buebs Streitschrift "Lob der Disziplin“ (siehe unten) geschlagen…

Reichenbach: Das Buch selbst finde ich problematisch, weil es viele prekäre Aussagen enthält. Aber es war ein Tabubruch, weil sich die Erziehungswissenschaft lange Zeit überhaupt nicht mehr mit Autorität beschäftigt hat, und wenn dann nur negativ. Was aber Autorität im positiven Sinn bedeutet, nämlich als Merkmal einer Beziehung, die gekennzeichnet ist von Anerkennung, darüber hat man nicht gesprochen. Jetzt sehen aber viele Menschen mit Unbehagen, dass die Autorität der Institutionen, unter anderem jene der Schule, eindeutig geschwächt ist. Und das wirkt sich auch auf die Autorität der einzelnen Lehrpersonen aus. Sie fühlen sich ja auch von den Eltern nicht mehr als Autorität anerkannt: In der Schweiz sind etwa die Eltern einer der Hauptgründe, warum Grundschullehrerinnen ihren Beruf an den Nagel hängen. Als Klischee könnte man es so ausdrücken: Früher wurde das Kind in der Schule vom Lehrer geschlagen und dafür zu Hause noch einmal geprügelt. Heute wird das Kind in der Schule kritisiert - und der Reflex der Eltern lautet: So darf man nicht mit unserem Kind umgehen!

Die Furche: Oftmals wird von Lehrkräften beklagt, dass ihnen heute jegliche "Disziplinierungsmaßnahmen“ verboten sind…

Reichenbach: Die Frage ist, wie Disziplinierung, also die Herstellung einer Ordnung, praktiziert wird. Heute wird Ordnung vielleicht nicht mehr durch autoritäre Lehrpersonen hergestellt, sondern eher durch Ritalin (ein Psychopharmakum, das bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ADHS, eingesetzt wird, Anm.). Ordnung kann man jedenfalls brachial schaffen - oder subtil. Wobei es tatsächlich eines der größten Probleme in der Lehrerbildung ist, dass man die Führungsaufgabe zu wenig berücksichtigt. Doch Classroom-Management und Führung sind Techniken, die man lernen kann.

Die Furche: Kann man auch lernen, Autorität auszustrahlen?

Reichenbach: Sagen wir es so: Es gibt viele Quellen von Autorität: Wissen ist so eine Quelle, oder Authentizität, oder Organisationstalent. Umso wichtiger ist es für die Lehrperson, herauszufinden, wo sie wirklich stark ist - und wo nicht.

Die Furche: Gibt es typische Persönlichkeitsmerkmale von Lehrern mit Autorität?

Reichenbach: Nein. Die Persönlichkeit eines Lehrers ist zwar insgesamt wichtig. Doch im Rahmen von Forschungen, bei denen 300 "Best Practitioners“ unter die Lupe genommen wurden, hat man keinerlei gemeinsames Persönlichkeitsprofil entdeckt. Man kann also auf unterschiedlichste Art und Weise ein sehr guter Lehrer oder eine sehr gute Lehrerin sein. Manche haben Extrovertiertheit als Stärke, bei anderen wird gerade ihre stille Art geschätzt. Es hat eher mit dem Selbstverständnis als Lehrperson zu tun, also mit der beruflichen Identität.

Die Furche: Eine Identität, die heftig ins Wanken geraten kann, wenn man etwa als Lehrerin vor einer Gruppe türkischer Buben steht und als Frau einfach nicht ernst genommen wird…

Reichenbach: In einem solchen Fall ist es wichtig, dass die Lehrperson nicht alleingelassen wird. Wobei durch das Phänomen der Schwächung der Institution Schule alles individualisiert wird und nur noch darüber geredet wird, wie dieser und jener Lehrer agiert. Doch wenn es so fundamentale Anerkennungsprobleme gibt, dann muss die Schulleitung öffentlich gegenüber diesen jungen Menschen und ihren Familien auftreten und sagen, was man von ihnen erwartet. Ich bin ohnehin der Meinung, dass man die besten Lehrpersonen in die schwierigsten Schulen schicken sollte. An manchen Orten ist es eben einfach, Lehrer zu sein, an anderen ist es eine Herausforderung.

Die Furche: Und dann sollte Schule ganz nebenbei auch noch ein Ort sein, an dem Lernen Spaß macht…

Reichenbach: Das ist natürlich eine Illusion! Wenn Lernen Spaß macht, ist es gut. Aber erstens kann man Spaß nicht erzwingen, und zweitens ist Lernen in vielerlei Hinsicht eine schwierige, mühsame Angelegenheit. Und das wird heute oft etwas diffamiert. In der Schule gibt es nun einmal Allgemeinbildung und Schulpflicht, alle sollen mit allem in Berührung kommen. Die lange Schulzeit kommt noch dazu: Vor hundert Jahren gingen die Leute sechs Jahre in die Schule, heute sitzen wir ewig hier und müssen Scheine machen. Nicht zuletzt beginnt auch die Geschlechtsreife immer früher: Vor 200 Jahren lag sie bei Mädchen bei 18 Jahren, heute liegt sie bei elf Jahren. Wir haben Schülerinnen und Schüler, die sehen aus wie Frauen und Männer, aber werden behandelt wie Kinder. Das muss man alles mitbedenken, wenn man über Autorität in der Schule spricht. Andererseits ist es aber auch normal, dass Autorität in Frage gestellt wird. Das darf auch gar nicht anders sein, weil ein junger Mensch, der erwachsen werden will, sich von seinen Eltern befreien können muss. Dazu ist es aber wichtig, dass es Friktionen gibt. Wenn man nur auf Verständnis stößt, kann man seine Freiheit nicht praktizieren. Man braucht Grenzen, damit man sie überschreiten kann. Insofern ist Autorität in modernen Gesellschaften immer auch in der Krise, und das ist gut so.

Pädagogische Autorität

Macht und Vertrauen in der Erziehung.

Von Roland Reichenbach. Verlag Kohlhammer,

Stuttgart 2011. 218 Seiten, kartoniert, e 25,60

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