"Wir brauchen Fehler"

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Etwas falsch zu machen, gilt nicht wirklich als erstrebenswert. Zugleich sind Fehler - und ihre Korrektur - unverzichtbare Bestandteile jedes Lernprozesses. Fritz Oser, Pädagoge an der Universität Fribourg und Referent auf der dieswöchigen 55. Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg, bricht eine Lanze für das Irren - das so menschlich ist.

Die Furche: Der Titel Ihres jüngsten Buches "Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur" deutet darauf hin, dass Sie vom Mainstream des Lern-Flows, der Leichtigkeit des Lernens, nicht sonderlich angetan sind ...

Fritz Oser: Das ist kein provokanter Buchtitel, das ist vielmehr das Ergebnis wissenschaftlicher Studien. Denn das Lernen, also der Prozess, vom Falschen zum Richtigen zu kommen, ist sowohl anstrengend als auch emotional diffizil. Meine Ergebnisse sind das Resultat einer fünfjährigen intensiven Forschungsarbeit, in der wir den Aspekten der emotionalen Reaktionen auf Fehler - etwa die Wirkung von Beschämung auf den weiteren Lernprozess - viel Raum gegeben haben. Was muss man in der Rolle des Erziehenden verbieten, was muss man zulassen? Das sind Entscheidungen, die jede Generation neu für sich trifft, treffen muss. Dies geschieht immer in Auseinandersetzung darüber, wo das Richtige seinen Platz in der Welt erhält, ist also eine ständig neu zu treffende Standortbestimmung. Schade, dass Menschen so schlecht akzeptieren wollen, dass man intelligente Fehler machen kann, die wirklich weiterhelfen, schließlich können wir auf das Falsche nicht verzichten, wenn wir das Richtige erkennen wollen.

Die Furche: Fehler zu machen und sie zu korrigieren sind also Gewinne aus dem Lernprozess?

Oser: Genau. Die Ergebnisse unserer Biografiestudie haben belegt, dass Menschen häufiger als bisher angenommen aus Fehlern lernen. In Interviews erzählten zahlreiche Personen etwa, dass sie Fehler, die an ihnen begangen wurden, als Erwachsene bewusst nicht weitergeben oder bei ihren Kindern wiederholen.

Die Furche: Was bedeuten diese Ergebnisse für den tagtäglichen Schulunterricht?

Oser: Lehrpersonen gehen häufig nicht auf Fehler ein, weil sie die Kinder nicht beschämen wollen. Wir sprechen hier vom so genannten "Bermudadreieck": ein Schüler macht einen Fehler, die Lehrerin wendet sich ab, fragt einen anderen, der die richtige Antwort gibt. Dahinter steckt die Erwartung, dass der erste Schüler sich selbst korrigiert, man arbeitet also nicht im positiven Sinn mit Fehlern, auch aus Angst davor, Kinder wegen eines Fehlers zu beschämen. Ich halte nichts davon, Fehler und Fehlermachen zu verherrlichen, wir müssen aber soweit kommen, dass Fehler benannt und korrigiert werden, ohne dass Schüler - das gilt auch für Erwachsene - ihr Gesicht verlieren. Lernen aus Fehlern ist ein Lernen, wo man durch etwas hindurch geht, das sollte man niemandem vorenthalten.

Die Furche: Neben dieser Fehler-Kultur ist auch die Partizipation an den Schulen ausbaufähig - auch im demokratischen Musterland Schweiz: Bei der internationalen Studie "Citizenship and Education in 28 Countries", an der sich 94.000 Schüler zwischen 14 und 15 Jahren aus 28 Ländern (ohne Österreich) beteiligt haben, hat sie nur Rang 19 belegt ...

Oser: Ich war in der Schweiz wissenschaftlicher Leiter dieser Studie der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement), und es ist sicher so, dass bei uns eine klare Struktur für die Unterrichtsgegenstände "politische Bildung" und "Geschichte" fehlen und dass Schweizer Jugendliche nicht viel von Partizipation halten, besonders in den Schulen nicht - wobei die Distanz der Jugendlichen zum politischen System in allen 28 Ländern groß ist. Wenn aber Probleme in der unmittelbaren Umgebung auftreten - und was ist Schule anderes als das? -, dann setzen sich diese jungen Menschen engagiert, auch verantwortungsvoll für das Gemeinwohl ein. Kinder und Jugendliche müssen demokratische Strukturen konkret in der Schule erleben. Wenn sie sich im Modell der gerechten Gemeinschaftsschule an der moralischen und ethischen Gestaltung des Schullebens - etwa auch in Fragen der Integration - beteiligen, dann gibt das allen Beteiligten neuen Schwung. Das funktioniert aber nur dort, wo Partizipation und Verantwortung einander die Waage halten.

Die Furche: Sie haben auch Studien zum Bild der Lehrerinnen und Lehrer bzw. zu deren Berufsethos durchgeführt. Was waren Ihre Ergebnisse?

Oser: 2001 haben wir die Lehrerausbildung in allen Schweizer Lehrerbildungsinstitutionen untersucht und dazu 1200 junge Lehrerinnen und Lehrer am Ende ihrer Ausbildung befragt - wobei uns das Ergebnis noch immer zu denken geben muss: Denn diese jungen Lehrer waren überwiegend der Meinung, dass sie gerne mehr geleistet hätten. Das positive Klima während der Ausbildung wurde allgemein gelobt, doch die Förderung der Kompetenzen, etwa das Bewältigen von Konfliktsituationen im Unterricht, sei auf der Strecke geblieben.

Die Furche: Welche Erkenntnisse haben Sie über das Berufsethos der Pädagogen gewonnen?

Oser: Berufsethische Konflikte entstehen immer dort, wo unterschiedliche Werte aufeinander prallen. Übrigens gilt das in gleichem Maße für Richter oder Ärzte: Auch sie müssen Werte gegeneinander abwägen und sich - häufig mitten in der Krisensituation - entscheiden. Wenn sich etwa eine Lehrerin dafür entscheidet, einen Schüler nach seinem Fortschritt bzw. seiner Anstrengung und nicht so sehr nach seiner Leistung zu beurteilen, erfüllt sie zwar den Wert der Fürsorglichkeit - aber weniger jenen der Gerechtigkeit gegenüber Schulkollegen, die bessere Leistungen mit weniger Anstrengung erbringen. Wir haben in unserer Studie die Lehrerinnen und Lehrer mit solchen Situationen konfrontiert und gefragt, wie sie sich in der konkreten Frage entscheiden würden. Manche sind dem Konflikt ausgewichen. Andere haben den Weg gewählt, alle Betroffenen an einen Tisch zu bringen und Gespräche zu führen. Diese Situationen müssen trainiert werden.

Die Furche: Welchen Einfluss hat die Klassengröße auf diese Dynamiken?

Oser: Sie hat sicher Einfluss, doch neuere Studien haben gezeigt, dass der Erfolg des Unterrichts auch von der Unterstützung des Lehrers durch die Schulleitung, dem Klima an der Schule, den Kontakten zu den Eltern bzw. zu den Kollegen abhängt. Nicht zuletzt gibt es auch eine zu geringe Schülerzahl in einer Klasse: In diesem Fall sind die Lehrerinnen und Lehrer ihren Kindern einfach zu nah.

Das Gespräch führte Christina Gastager-Repolust.

Lernen - auch wenn es weh tut

Das Lernen steht im Zentrum von Fritz Osers Interesse. Und auch er selbst hat kaum eine Chance ungenützt gelassen, in neue Wissensfelder einzutauchen: 1937 geboren, besuchte Oser zunächst das Lehrerseminar in Solothurn. 1962 erwarb er ein Diplom als Schweizerischer Musiklehrer und begann im selben Jahr an der Universität

Basel das Studium der Philosophie (bei Karl Jaspers), der Pädagogik und der Sprachwissenschaft. Nach einem Studienjahr an der Sorbonne und am Institut Catholique in Paris, das ihm neue Impulse aus Philosophie, französischer Literatur, Theologie und Musikwissenschaft bescherte, erhielt er 1966 einen Lehrauftrag an der Theologischen Fakultät Luzern für psychologische Didaktik und Methodik. Nach seiner Dissertation über moralische Erziehung an der Universität Zürich und seiner Habilitation über das

Problemlösen im sozialen Bereich erhielt er 1989 den Ruf als Professor für Pädagogik und Pädagogische Psychologie an die Universität Fribourg. Seither gehört die Erforschung von Basismodellen kognitiven Lernens zu seinen Schwerpunkten - ebenso wie die Stufen der religiösen Entwicklung und Untersuchungen zum Bild und Berufsethos von Lehrerinnen und Lehrern. Im Vorjahr hat er gemeinsam mit Maria Spychiger das Buch "Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur" (Beltz) publiziert. Im Rahmen der 55. Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg ("Ich kann. Du kannst. Wir können. Selbstwirksamkeit und Zutrauen"), die vom Katholischen Bildungswerk Salzburg im Auftrag der Caritas organisiert wurde und noch bis Freitag läuft, hat Oser über "Teilnehmen und Mitteilen" referiert.

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