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Materialismus des Denkens

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TUBINGER EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE. Von Ernst Bloch. 204 Selten. — AVICENNA UND DIE ARISTOTELISCHE LINKE. Von Ernst Bloch. 116 Selten. -DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINE 1 TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT. Von Walter Benjairln. 156 Selten. Alle: Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1963. Preis je S DM.

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TUBINGER EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE. Von Ernst Bloch. 204 Selten. — AVICENNA UND DIE ARISTOTELISCHE LINKE. Von Ernst Bloch. 116 Selten. -DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINE 1 TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT. Von Walter Benjairln. 156 Selten. Alle: Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1963. Preis je S DM.

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In unserer Zeit geschieht viel zuviel; viel zuwenig ereignet sich. Gehört einmal etwas zu den Ereignissen, so lohnt es sich, aufzuhorchen und aufzumerken. Am Geschehen mag man straflos vorbeigehen; Ereignisse zu übergehen, wäre sträflich. Ernst Blochs Denken ist Ereignis.

Zunächst schon der Stil. Es gibt profilierte, eigenwillige, schwer verdauliche, ungestalte Arten zu schreiben. Bei Bloch ist es damit nicht getan. In der Tübinger Einleitung 1962 schreibt er vulkanisch, eruptiv. Geballte Energie läßt Brocken sausen: an ruhigeren Stellen türmt es sich zerklüftet, grob und wuchtig wie Granit, überall aber unbehauen und formspröd. Das Büchlein über Avi-cenna, 1952 verfaßt, läßt istilistisch in manchen Passagen das Kommende ahnen, gibt sich aber durchaus noch nicht als Naturereignis. Jedenfalls: Wer nicht erschlagen werden will, muß einen harten Schädel haben oder der Katastrophe besser aus dem Wege gehen.

Dann der Inhalt, besser Gehalt. In der wechselweisen Durchdringung von Sache und Denken ist Materialismus gewiß nicht die schlechteste Faustregel. Bei Schwätzern und Geistesakrobaten läuft gern schaulustiges Volk zusammen; der materielle Denker, der sachlich etwas leistet, kann solcher Gaukelei ent-raten und dennoch seines Einflusses sicher sein. In erster Linie durch sein sachliches Bemühen ist Bloch Materialist, in einem Sinn, in dem jeder Denker, der Denker heißen darf, Materialist war und ist. Daß er auch noch in jenem anderen, abgegriffenen Sinn, von Marx herkommend, Materialist ist, soll nicht leichtfertig abgetan werden. Der Marxist ist zwar kein Erbpächter der Wahrheit, doch gehört es zweifellos zu den unbestreitbaren Pluspunkten eines jeden ernstzunehmenden Marxisten, sich in einem sachlichen Gebiet bewegen zu müssen, in dem allein der richtige Weg zur Wahrheit herausgeschnüffelt werden kann. Daß sie noch am Gängelband und mit Scheuklappen philosophieren, kommt diesem Unternehmen nicht gerade entgegen; auf der rechten Fährte kann sich aber verlieren, was hinderlich. Ohne über den eigenen Schatten zu springen, geht Bloch seinen Weg, auf dem er vieles findet, was einleuchtet und weiterführt.

Letzteres, das Weiterführende, über sich selbst Hinausweisende in der Anlage seines Denkens, das Wegweisende und Aufreißende, kommt nicht von ungefähr. Alle Beiläufigkeit bei Bloch trägt in sich eine große Absicht. Nämlich die Kraft des Anstoßes, der weiterwirkt. Bloch gelingt es damit, dem Circu-lus vitiosus einer Gegenwart, die vergänglich, und einer Vergangenheit, die allgegenwärtig, zu entschlüpfen. Er öffnet das Auge für die Zukunft, orientiert sich an ihr, erwartet sich einiges und hofft auf mehr, tut selbst den ersten Schritt hinein ins Noch-nicht und läßt die anderen weitergehen. Er gibt der Gegenwart die Fülle, das Drängende des Anfangs und macht sie eindeutig der Zukunft verpflichtet. Eine wahrhaft große Botschaft, wohl wert, gehört zu werden!

Im einzelnen die Bücher. Die Tübinger Einleitung führt den Weg ehrlichen Schweißes in die Philosophie, den harten, steinigen Weg der sachlichen Erkenntnis und Auseinandersetzung. Nicht Begriffsgepolter und Wortgeklingel, nicht historisierende Systematik und systematisierte Histörchen bestreiten das Programm, sondern am Weg, den alles Denken geht, sei es im Bereich der Freiheit oder der Selbsterkenntnis oder der Welthaftigkeit, werden Marksteine gesetzt; zugleich wird gezeigt, wo das Werk voranzutreiben sei. Wer willens und imstande ist, dem strengen Führer zu folgen, der wird durch vielfältige Ausblicke und mancherlei Erkenntnis belohnt. Weniger trutzig geriert sich die Schrift über die Aristotelische Linke. Avi-cenna, Averroes, Bruno und andere kommen in die Ahnengalerie des Materialismus; ihr Bemühen um immanente Welterklärung, ihre formdurchwirkte, lebendige, selbstbewegte Materie finden eine zeitgemäße Würdigung. Zeitgemäß deshalb, weil die feste Uberzeugung, versöhnlich insbesondere für jene, die anderer Meinung sind, im Vordergrund steht, daß das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist, daß große Aufgaben der denkerischen Bewältigung harren, daß der menschlichen Verwirklichung und schöpferischen Entfaltung bei aller Beschränkung große Ziele gesetzt sind.

Walter Benjamins Studien zur Kunstsoziologie sollten jene, die das nicht glauben wollen, überzeugen, daß im Marxismus vieles fruchtbar vereint ist, was der Sache nach verbunden ist. Eine feine Gabe des Beobachtens, des Erfühlens, verbunden mit einer regen Veranlagung, sich in der Welt der Kunst wie auch in der weiteren Welt umzusehen und die Dinge von allen Seiten zu betrachten, liefern bei Benjamin überraschende und lebendige Gesichtspunkte. Am spezifisch Neuen, sei es die Photographie in ihren Anfängen oder der Film, bewährt sich seine Methode, kleinere Revolutionen im Rahmen größerer Umwälzungen zu sehen. Wäre da nicht eine Neigung, sich vor Eifer zu versteigen, gäbe es nicht jene Stellen, deren Naivität weniger umstürzlerisch-revolutionär als bestürzend wirkt, bliebe schließlich der kritische Blick auch sich selbst gegenüber scharf, die Studien wären ein reines Vergnügen. Abgesehen von diesen Haaren in der Suppe, bekommt die Kost jedoch, besonders durch ihre Zubereitung. Benjamin, der Baudelaire übersetzte, führt eine elegante, flüssig schreibende, einprägsame Feder.

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