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Der gefallene Pseudoengel
Aui uen ersten miete iam sicn die Zeitungskrise, die nun auch in Österreich unzweifelhaft ausgebrochen ist, nicht erkennen; im Gegenteil, der Umstand, daß am 3. Oktober eine neue Tageszeitung für Wien und die umliegenden Gebiete erscheint, ließe eher das Gegenteil vermuten. Man muß daher, um den ganzen Umfang des krisenhaften Vorganges zu begreifen, den Deckel abheben und nach den Ingredienzien des Zustandes forschen.
Abgesehen von Systemen, in denen Staat, Partei und Presse nahezu identisch sind, also etwa kommunistischen oder anderswie diktatorischen, herrscht überall ein Prozeß vor, den man je vom Standpunkt der Betrachtung aus als Zeitungssterben, Zeitungskrise, Umgestaltungsprozeß der Massenmedien usw. benennt. In den USA forderte dieser Prozeß große Opfer, und unter ihnen sind einige ehrwürdige Tote zu beklagen. Nicht anders ging und geht es in einem Mutterland des Zeitungs-wesens, in Großbritannien zu. In Skandinavien scheint der Prozeß, der eine radikale Lichtung des Zeitungswaides brachte, beinahe schon abgeschlossen, in Frankreich, in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich beginnt er erst so richtig sichtbar zu werden.
Vorsicht vor Vereinfachungen
Die Ursachen, wie es dazu kommen konnte, sind vielfältig. Und sie liegen keineswegs bloß darin, wie einige Vereinfacher es zu behaupten suchen, daß andere Massenmedien (Rundfunk, Fernsehen usw.) den Zeitungen wichtigen Nährboden entzogen haben. Auch das geradezu erschreckende Uberhandnehmen der Praxis, sich mehr und mehr bloß noch akkustisch und optisch informieren zu lassen, ja, informieren zu können, ist ja nicht Ursache, sondern Wirkung eines viel tiefer liegenden Vorganges.
Zunächst sei ganz allgemein festgehalten, daß sich mit dem Wandel der Gesellschaft natürlich auch deren Organe gewandelt haben. Früher einmal war die Zeitung der Anwalt der bürgerlichen Welt gegenüber dem Staat. Mit dem Abklingen des
Absolutismus, den aufkommenden konstitutionellen Regierungsformen, dem Eindringen des Bürgertums in den Staat wuchs diese Aufgabe der Zeitungen noch. Sie standen zumeist gegen den Staat und für „das allgemeine Beste“; freilich, nicht gegen den Staat in negativistischer Konzeption, sondern gleichsam als Pseudo-Erzengel vor den Toren des bürgerlich-liberalen Paradieses, streng darüber wachend, daß jedes Ein- und Übergreifen des Staates bemerkt und wohl auch abgewehrt werde.
Heute sind Gesellschaft und Staat so verflochten, „daß sich die Gesellschaft selbst dauernd widerspricht, weil sie sich mit allem identifiziert hat... Nun ist es schwierig zu definieren, wo die wohlverstandenen, neutral beobachteten Interessen der Öffentlichkeit liegen und gegen wen sie in Schutz zu nehmen sind“ (Golo Mann).
Die vierte Macht?
Der bis weit in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts behauptete Grundsatz, die Presse sei die vierte Macht im Staate, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, da die Voraussetzung dazu, die Trinität, verloren gegangen ist. Wo treffen sich denn noch hoheitliche Autorität und öffentliche Macht und wo sind sie sorgsam voneinander getrennt?
Im Strudel dieser Ereignisse geriet die Presse funktionsmäßig in einen immer rasanteren Aufspaltungsprozeß: sie wurde in erster Linie Sprachrohr von Gruppen und Interessengemeinschaften: politischen, religiösen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen usw. Unter den verschiedensten Drapierungen dient sie nun — meist immer noch, quasi aus althergebrachter Gewohnheit und weil es sich besser macht, unter dem Vorwand, das „öffentliche Wohl“ im Auge au haben — jeweils den Sonderinteressen. Je mehr diese durcheinander gerieten, je radikaler sich die Veränderungen der Gesellschaft vollzogen, desto wirbeliger mußte es auch in einem der von dieser Gesellschaft hervorgebrachten Organe, diesfalls in der Presse, zugehen.
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