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Abschied von Ideologie?

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Die Weltöffentlichkeit hat sich bereits an die diversen Erklärungen und die ihnen folgenden Maßnahmen in der Sowjetunion gewöhnt, die Wandlungen verheißen. Weniger Aufmerksamkeit wird allerdings der ideologischen Begründung der Neuerungen geschenkt — kein Wunder, denn eine verbindliche Sozialismustheorie ist von Moskau im Laufe der vergangenen zwei Jahre nicht verkündet worden.

Man wird sie auch vergeblich erwarten - natürlich nicht etwa deshalb, weil die neue Sowjetführung sich von der marxistischen Ideologie entfernt hätte; im Gegenteil. Der Versuch jedoch, sich dem humanen Gehalt dieser Lehre praxisbezogen zu nähern, .scheint jene Glaubenscodices überflüssig zu machen, die in der Vergangenheit so oft ex cathedra proklamiert wurden.

Die wesentlichen Züge des neuen Sozialismusmodells werden freilich von Zeit zu Zeit zusammengefaßt. So auch in jenem Interview, das der Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen Institutes der Moskauer Akademie der Wissenschaften, Leonid Abalkin, kürzlich der Nachrichtenagentur APN/Nowosti gab. Ab-alkins Ausgangspunkt bildet die These, wonach „der Fortschritt weder von äußeren Komponenten, wie dem Wetter, oder der immer komplizierter werdenden internationalen Lage, sondern von unseren eigenen veralteten Produktions- und gesellschaftlichen Verhältnissen gebremst wurde".

Gemäß den Lehren der politi-

schen Ökonomie führe die quantitative Entwicklung der Produktionskräfte zu ihrem eigenen qualitativen Wachstum, aus dem jedoch nicht notwendigerweise die automatische Veränderung der Produktionsverhältnisse folge; wobei die Ignoranz dieser Tatsache einen Verfall zur Folge habe. Abalkin erblickt einen Ausweg aus dieser Krise im bewußten Handeln, das in bezug auf die zwischen Produktionskräften und Produktionsverhältnissen herzu-

stellende Harmonie eine intensive Anwendung der Ergebnisse und Empfehlungen der Wissenschaft bedeute.

Dabei gesteht er selber, daß beispielsweise die Wirtschaftswissenschaft „sich erst jetzt mit den grundlegenden Fragen des Lebens zu befassen beginnt".

Die ungehinderte Partizipation an den Errungenschaften und Ergebnissen der wissenschaftlichtechnischen Revolution würde zu weiteren Reformen des Systems beitragen, dessen Entwicklung Parteichef Michail Gorbatschow in seiner kürzlich auf dem Moskauer Friedensforum gehaltenen Rede mit der Demokratie verband. Die Erklärung „Wir wollen mehr Sozialismus und somit auch mehr Demokratie!" kann demnach als Kernsatz des neuen sowjetischen Sozialismusmodells gewertet werden, dessen ideologische Grundlage freilich unverändert marxistisch bleibt.

Aus der sinnvoll-effektiven und humanen Entwicklung der Produktionsverhältnisse folgt jedoch nach der marxistischen Lehre die Humanisierung der Gesellschaft, das heißt deren Institutionen. Es wäre freilich mehr als illusorisch, in dieser Hinsicht pluralistische Strukturen schaffende Sofortmaßnahmen zu erwarten.

Den zweiten Schritt faßt Abalkin folgendermaßen zusammen: „Alles hängt von den Bedingungen ab, unter denen der Arbeiter tätig ist - und so von der Möglichkeit, mit der er auf die Lenkung und Organisation der Produktion, auf die Verteilung und Verwendung der durch das Ergebnis der Arbeit entstandenen Werte Einfluß nimmt. Diese Möglichkeiten müssen wir schaffen. Das ist der Sinn der Wandlung. Und es geht ja um viel mehr als nur um die Wirtschaft."

Vom neuen sowjetischen Sozialismusmodell Ideologiefreiheit zu erwarten, wäre gewiß genauso töricht, wie ihm Revisionismus vorzuwerfen, zumal dieser einer Exkommunikation gleichkommende Vorwurf immer wieder von denen verwendet wurde, die die Schuld für Versäumnisse in der UdSSR tragen.

Die Weltöffentlichkeit wird sich in Zukunft nicht nur an die oft Erstaunen auslösenden Maßnahmen der Sowjetführung gewöhnen müssen, sondern auch daran, daß das auf Humanisierung des Lebens gerichtete Handeln die schulmeisterlich-aggressive Proklamation „unfehlbarer" Dogmen ablöst.

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