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Anfang wahrer Aufklärung

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Zu Beginn des Buches wird man etwas skeptisch, wenn unsere heutige Krise als Endpunkt einer Entwicklung angesehen wird, die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zurückreicht oder gar eine einmalige Situation, wie es sie in der seit 20 Milliarden Jahren andauernden Evolution bisher noch nicht gegeben hat. Am Schluß klingt es schon bescheidener, allerdings auch überzeugender, wenn unsere Situtation in Analogie zum Untergang der antiken Welt gesehen wird, die aber die Möglichkeit einer Uberwindung in sich trug.

Was zwischen diesen ersten und letzten Seiten auf vierhundert Seiten beschrieben wird, wird von Kapitel zu Kapitel faszinierender, wenn es auch eine erhebliche Anstrengung des Mitdenkens erfordert. Die Krise unseres Fortschritts ist nicht darauf zurückzuführen, „daß der Fortschritt nicht gehalten hätte, was er versprach, sondern die Krise des Fortschritts ist eine der Konsequenzen gerade seines überwältigenden Erfolges".

Die Beispiele dafür verfehlen

nicht ihre Wirkung: die Weiterentwicklung des Sozialstaates ist in eine Art neuer Sozialdiktatur umgeschlagen, die Entwicklung der nuklearen Technik hat nur dazu geführt, jeden einzelnen Menschen einer Zerstörungskraft von etwa I6.000 Tonnen Dynamit auszuliefern, daß also Jedes Ding schwanger geht mit seinem Gegenteil", Fortschritt mit Rückschritt, Emanzipation mit Barbarei, Rationalität mit Irrationalität.

Vor allem aber wird am Beispiel der marxistischen Ideologie gezeigt, wie sie gerade aus ihren eigenen Reihen heraus eine Destruktion der Erwartungen, ja eine tödliche Widerlegung als perfektionierte Form menschlicher Selbstentfremdung gefunden hat, ökonomische Insuffizienz plus Versklavung des Menschen, und zwar unter der Eigendynamik Marxscher Argumentation.

Durch eine von marxistischer Seite manipulierte Interpretation des Faschismus sollen diese Konsequenzen verschleiert werden, indem sie dadurch sich selbst von Totalita-rismusverdacht reinzuwaschen versucht, und kaum jemand es wagt, dieses dialektische Spiel aufzudek-ken, weil er dafür selbst des Faschismus geziehen wird.

Aber Rohrmoser geht noch tiefer und wird anspruchsvoller, wenn er profunde Auseinandersetzungen mit Kant, Hegel, Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Habermas bis herauf zu Marcuse führt und schließlich das heute selbstverständlich gewordene Denken in Strukturen entlarvt als Unfähigkeit, die Wahrheitsfrage zu stellen, um nur noch das eigene System zu reproduzieren.

Diese Situationsanalyse ist eine unerhörte Herausforderung, aber auch eine Chance, ein Christentum neu zu entdecken, das den Menschen die Wahrheit über sich selbst sagt, welche ihm neben seiner Endlichkeit zum Tode auch seine Schuld klar macht, und diese Wahrheit ist „nicht nur Ende, sondern Anfang wahrer Aufklärung zugleich.

ZÄSUR, WANDEL DES BEWUSST-SEINS, Von Günter Rohrmoser, Seewald-Verlag Stuttgart 1980.496 Seiten, öS 369,60

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