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Pfingsten 1946

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Werden sich die dunklen Wolken auf uns herabsenken oder werden sie sich zerstreuen?

Die Entscheidungen, in denen über die künftige Lebensordnung der Völker das Urteil gefällt wird, über Frieden und Rechtssicherung, ja über mehr noch: über die abendländische Kultur und ihr Mutterrecht an der Erziehung der Menschheit — nähern sich der Klimax. Die Ereignisse drängen sich — Volksentscheide, Streiks, die das Wirtschaftsleben großer Staaten erschüttern und immerfort das Hin und Her des diplomatischen Kräftespiels. Die Unruhe, von Europa ausgehend, bebt weithin durch Asien, in China und in der Mandschurei klirren noch die Waffen, in dem Völkergemisch der pazifischen Inselwelt beben die Nachwirkungen kaum überwundener Aufstände, selbst in Nord- und Südamerika, die von den Kriegsverheerungen auf eigenem Boden verschont geblieben sind, züngeln soziale Brände auf, die nicht von ungefähr entstanden sind. Man kann schwerlich eine andere Periode der Geschichte heranziehen, in der ein Riß von so ungeheurer Länge die Menschheit in zwei gegnerische Welten zu spalten drohte. Der Kommunismus ist in breiter Front zum Vormarsch angetreten.

In der Auseinandersetzung, vor die sich die gegenwärtige Generation gestellt sieht, geht es um mehr als um eine tiefe Umgestaltung der sozialen Beziehungen. Wäre es nur dies, so würde die Tragweite des Geschehens zwar die gesellschaftliche Ordnung, aber nicht die Seele der Menschheit, ihre geistige Welt betreffen. Wohl verweisen Theologie und christliche Philosophie das Recht auf Privateigentum in die Sphäre des unveräußerlichen naturrechtlichen Besitzes des Menschen, aber sie anerkennen grundsätzlich dessen Begrenzung durch das allgemeine Wohl und durch die Gesetze christlicher Gerechtigkeit.

Nein, nicht in den Fragen um Sozialismus und kollektive Organisation kulminiert das Wesentliche der Auseinandersetzung, sondern vielmehr darin, ob die Lebensform der Menschheit durch ein materialistisches Gestaltungsprinzip, Masse, Macht, Diktatur oder durch die Anerkennung des Primats des Geistes, des naturgegebenen entscheidenden Trägers unseres Seins, bestimmt werden soll.

Eine tiefe Tragik will es, daß der Kommunismus, als er vor einem Jahrhundert zum erstenmal in - England organisatorische Ansätze machte — mit der Gründung der „Kommunistischen Propagandagesellschaft“ und des „Communitorium“ in Harmwell — aus dem Gedankengut der christlichen Frühzeit schöpfte, aber in rascher Folge zu einem übersteigerten Marxismus abgetrieben wurde. Sein erster Pionier in England, der schlichte unitarische Prediger und Hymnendichter aus Suffolk, Goodwyn Barmby, dessen edler Reformeifer sich an den damaligen schweren Mißständen liberalkapitalistischer Industrieherrschaft entzündet hatte und dem bei seinen sozialen Konzepten noch das Gemeinschaftsleben der Jerusalemer Apostelzeit vorschwebte, würde sehr verwundert sein, könnte er heute seine Nachfahren sehen, würde er wahrnehmen, wohin die Grundsatzlehre geführt hat, die sein Zeitgenosse, der große Dogmatiker des Marxismus, Friedrich Engels, mit dem Satze formuliert hat: „Die materielle, sinnlich wahrnehmbare Welt, zu der wir selbst gehören, ist das einzig Wirkliche. Unser Bewußtsein und Denken, wenn es auch noch so übersinnlich erscheint, ist eine Auswirkung eines materiellen körperlichen Organs, des Gehirns. Die Materie ist kein Produkt des Geistes, sondern der Geist selbst ist nur das höchste Produkt der Materie.“

Die These ist von klassischer Klarheit. Sie läßt kein Ausweichen zu. Wäre sie nicht eine Irrlehre, so gäbe es keine unsterbliche Seele, keinen Richterstuhl, vor dem unabänderlich jeder, ob Prasser oder Prolet, erscheinen muß, es gäbe kein ewiges, mit uns geborenes Recht, das niemand antasten darf, keine absolute Wahrheit, keine sittliche Norm, die uns Gut und Böse erkennen läßt, keine Tugend und keine Liebe und kein Anrecht auf Hoffnung mehr. Denn alles, was ist, ist nur Materie oder ihre mechanische Ausgeburt, höchste Potenz ist Zusammenballung der Masse und über jeglichem Recht steht die Macht, die durch die Materie, die Gewalt ihrer Zahl und ihres Gewichts, zugemessen ist.

Das ist nicht die letzte, sondern die unmittelbare Konsequenz der Lehre. Es ist die Versteinerung der Menschheit inmitten ihrer größten technischen Fortschritte und der im-ponierendsten Erfolge der exakten| Wissenschaften. Keine Heilsbotschaft ist in die Welt gekommen, die in ihrer Erfüllung revolutionärer wäre.

Ist das die Zukunft?

Der Ernst der Wahl, vor die sich die Völker1 gestellt sehen, leuchtet durch das Morgenrot des jetzigen Pfingstfestes. Nach der größten historischen Manifestation der Macht, dem kriegerischen Zusammenstoß materieller Kräfte, ist der Geist aufgerufen, mit dem schmerzenreichen Erbe des Krieges fertig zu werden. Es wird nur der Geist allumfassender, von höchsten sittlichen Normen gelenkter Liebe sein können. Vielleicht war die große Heimsuchung der Menschheit dazu bestimmt, diese Wahrheit überzeugend vor Augen zu stellen, eine Gesetzestafel, wie sie in der Wüste Moses aus dem brennenden Dornbusch empfing. Die Besinnung auf diese Wahrheit offenbart sich, wenn auch mit wechselnder Stärke, in allen großen, nicht nur politisch, sondern auch weltanschaulich orientierten Volksvoten der Gegenwart. Sie spricht auch wiederum aus den Ziffern des letzten Wahlsonntags in Frankreich.

Das Ringen, das sich jetzt vollzieht, wird abschließend in der geistigen Welt entschieden durch die größere Kraft der Idee, ler Wahrheit und ihrer schöpferischen, aufbauenden Macht. Um diese Kraft ruft in Demut und Zuversicht in dieser schicksalsschwangeren Zeit die Christenheit in ihrem: Pfingstbymnus:

Wasche, was beflecket ist,

Heile, was verwundet ist,

Tränke, was da dürre steht,

Beuge, was verhärtet ist,

Wärme, was erkaltet ist,

Lenke, was da irre geht!

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