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Das „Traumgebilde'

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Österreichs Bundeskanzler Bruno Kreisky nannte es ein „politisches Traumgebilde“ und hält es für unzweckmäßig: Europas Konzeption als Kraft and Macht zwischen den Blöcken, als „vierter weltpolitischer Faktor“.

Nun ist ein Interview im Süddeutschen Rundfunk für den österreichischen Bundeskanzler eine doch etwas heikle Sache, weiß man um die nuancenreichen Schwingungen, die solche Meinungsäußerungen östlich von Wien hervorzurufen pflegen. Dennoch kann man die Meinung Bruno Kreiskys — über dessen wachsendes Format als europäischer Staatsmann in der internationalen Szenerie kein Zweifel besteht — nicht einfach kommentarlos hinnehmen.

Was der Bundeskanzler nämlich in dem kürzlich wiedergegebenen Interview sagte, ist immerhin nicht mehr und nicht weniger als eine Kritik an der politischen Konzeption der gesamten europäischen Einigungsbewegung seit 1945. Das Ziel der Einigung ist — und das läßt jede Interpretation der Römischen Verträge der EWG erkennen — auf eine Emanzipation der Europäer in poli-ticis gerichtet; die Einigung soll doch nichts anderes bringen, als die politische Vollhandlungsfähigkeit. De Gaulle und auch seine heutigen Nachfolger im Elysee verstehen ihre Politik schließlich nur als Aufwertung Europas als (in der ersten Stufe) wirtschaftlichen, dann aber politischen und schließlich auch militärischen Faktor (in dem sie allerdings Dominatoren sein wollen).

Sieht man aber in der Integration ausschließlich einen wirtschaftlichen Prozeß und leugnet man jede politische Absicht, macht man aus diesem Kontinent nichts anderes als eine große Greißlerei. Zugegeben: Europa als politisches Machtfeld bedarf noch einiger Inspiration. Man hat sich bei allem Bienenfleiß in Brüssel und anderswo noch wenig mit der Logik der Konsequenzen befaßt, die der große Markt hervorbringen wird. Man hat sich allzusehr auf Fragen der Prozedur konzentriert und dabei offensichtlich keine Zeit gefunden, etwa das Faktische der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt (die die EWG bereits heute darstellt) und des größten Handelspartners der Welt politisch umzuwerten.

Zugegeben — die Partikularinteressen laufen in politischer Hinsicht in viele Richtungen; und man kann sich noch schwer vorstellen, daß ein dem Commonwealth verbundenes Großbritannien mit einem auf mediterrane Beziehungen fixierten Italien so bald politisch koordiniert wird. Letztlich wird es aber doch auf Prioritäten ankommen, die man setzt und die die politische Zukunft des Kontinents beeinflussen.

Mag sein, daß auch noch ein verborgener Generationenkonflikt heranreift. Die jüngeren Europäer bauen den Nationalismus in einem geradezu erstaunlichen Maße ab; Massenmedien, Tourismus, Sprachenkenntnis lassen verschütteten EuroDäismus wieder entstehen. Und auch ohne ein euphorischer Prophet zu sein, braucht man nicht allzuviel Phantasie, um irgendwann die Entstehung einer Europa-Ideologie (mit rechtem oder linkem Vorzeichen?) zu prognostizieren: eine Entwicklung, die bei Coudenhove-Kalergi nachzulesen ist.

Dazu kommt die Zwangsläufigkeif, die ein Disengagement der Amerikaner in Europa für die Westeuropäer bedeutet. Ist ein McGovern nicht neuerlich ein schlagender Beweis für die These, daß der Kontinent angesichts der Labilität der US-Innenpolitik doch nicht von Präsidentschaftswahl zu Präsidentschaftswahl zittern kann, ob Washington seine Truppen reduziert oder völlig abzieht? Ist es etwa ein Naturgesetz, daß die Europäer stets nur Zuschauer sind, wenn sich Sowjets und Amerikaner über ihre Köpfe hin arrangieren?

Zugegeben: die allgemeine Entspannung in Europa und die aktuelle Aktivität der Weltpolitik in Asien haben den Kitt eintrocknen lassen, der einen Adenauer, Schumann und De Gasperi am Verhandlungstisch verband, als man im kalten Krieg Europapläne schmiedete. Und doch tritt gerade jetzt die Problematik wieder auf, die großund kleineuropäische Konzeptionen aktualisiert.

Die Westeuropäer werden nicht in eine Sicherheitskonferenz gehen können, ohne zu wissen, wohin ihr Wagen eigentlich rollen soll. Die Forderung nach „freiem Austausch von Waren, Menschen und Ideen“ zwischen West und Ost in Europa muß zwangsläufig politische Implikationen produzieren.

Der kommende Europagipfel wird hoffentlich schon mehr Klarheit geben, was nun kommt. Die Integration muß weitergehen — darüber ist man sich innerhalb der Groß-EWG klar. Die Währungs- und Wirtschaftsunion aber involviert sehr wohl bereits politische Machtansprüche — zumindest gegenüber allen, die rundherum auf die Europäer angewiesen sind: und das sind viele in der Welt.

Für die Neutralen bedeutet die Entwicklung eine Herausforderung. Vorläufig stehen wir abseits. Es ist verständlich, daß sich der Regierungschef eines neutralen Staates nicht zur politischen Union Europas bekennen kann.

„Traumgebilde“ aber ist diese Union keines. Und außerdem: Traumgebilde waren zu einem bestimmten Zeitpunkt alle größeren Ideen dieser Weltgeschichte...

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