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Die Welt war damals größer

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Die älteren unter uns haben sieja noch alle gekannt: Förster und Kortner, Adele Sandrock, Elisabeth Bergner, Fritzi Massary, Josėphine Baker und vielleicht sogar die grandiose, arme, drogensüchtige Orska. Bis einschließlich 1. November kann man ihnen allen noch einmal begegnen, fährt man ins Met- temich’sche Schloß Grafenegg an der Autostraße WiemKrems, und betrachtet man die dort ausgestellten Zeichnungen und Graphiken Emil Orliks (1870-1932), der mit den Großen eines großen Vierteljahrhunderts befreundet war: mit Werfel und Wedekind, Rilke und Klabund, Gerhard Hauptmann und Hermann Bahr, Peter Altenberg und Henrik Ibsen. Was Wunder, daß diese einzigartige Ausstellung, die das Motto ,.Große Welt von gestern” trägt, unter demEh- renschutz der funfundachtzigjährigen Maria Jeritza steht, die, das eigentliche Österreich auch in der Fremde stets mit der Seele suchend, einst einer der Mittelpunkte jener größeren Welt war, die in Grafenegg für einige Wochen vor uns wiederersteht.

Wem aber ist eigentlich bewußt, daß die bekanntesten, immer wieder reproduzierten Köpfe von Mahler, Richard Strauß, Einstein und Furtwängler, von Emil Orlik gezeichnet wurden? Und wer erinnert sich, es sei denn, erführe nach Grafenegg, noch so genau an die Diseuse Claire Waldorf, an Maria Ivogün, Tūla Durieux, an Tilly Losch, jene von Max Reinhardt entdeckte grazile Tänzerin, ohne die der Som- memachtstraum-Film nicht geworden wäre, was er wurde? Wer hat noch die krähende Stimme des Max Pallenberg im Ohr, wer erinnert sich, wie beklemmend dramatische Höhepunkte mit Emil Jannings wahren, wie Willem Mengelberg dirigierte? Gewiß, den alten Emst Deutsch hat jeder, der um Theater Bescheid weiß, gesehen, auch die schnoddemde Grete Weiser und den Karl Valentin, die große Helene Thimig. Aber wie hat Max Mell ausgesehen, wie Hans Pfitzner, wie Alexander von Zemlinski? Und was geschah während des Strafprozesses gegen die Darsteller der Uraufführung von Schnitzlers „Reigen”?

Durchstreift man die Ausstellungsräume des Schloßes Grafenegg, in denen zu Orliks Graphiken auch Gläser, Keramiken, Kostüme und Schmuck jenes Vierteljahrhunderts gezeigt werden, in dem alles zur gleichen Zeit geschah, dann erkennt man, daß die Welt von gestern eben deshalb größer war, weil sie ihre schöpferischen Kräfte aus dem Parallelogramm Wien-Prag-Buda- pest-Agram bezog und Berlin ohne Unterlaß damit belieferte, Berlin, wo Max Reinhardt ohne dieses Reservoir der Talente auf nahezu verlorenem Posten gestanden wäre.

Seither sind wir allesamt zur Provinz herabgesunken, nicht nur die nächsten Nachbarn im Osten, sondern auch wir hier im Westen. Man hat die kulturellen Arterien Europas mit Mauern verkalkt und mit Stacheldrähten zugeschnürt. Die Blutzufuhr stockt. Die große Welt hat sich verengt.

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