6807774-1972_17_08.jpg
Digital In Arbeit

Gegen die Vernunft

Werbung
Werbung
Werbung

Der Münchner SPD-Parteitag, bei dem erwartungsgemäß der ehemalige Juso-Chef Rudolf Schöfber-ger zum Vorsitzenden und der im Oktober abgewählte Juso-Sprecher Geiselberger wieder auf die Stadtratsliste gewählt wurde — beide mit 184 Jastimmen der 257 Delegierten — hat sich beinahe peinlich an die Auflage gehalten, keinen Anlaß für seinen angedrohten Parteiaustritt zu geben.

Dieses Wahlergebnis manifestierte recht deutlich den unter den Delegierten eingetretenen Linksrutsch. Noch im Februar des vergangenen Jahres hatte der Parteitag einen Vorstand abgewählt, dem „fanatischer Wortradikalismus“ und andere parteischädigende Umtriebe vorgeworfen wurden. Unter dem- neuen Vorsitzenden Dr. Vogel sollte eine Konsolidierung eingeleitet werden. im UKtoDer enoigte noch mit einer Stimme Mehrheit die Abwahl des Juso-Sprechers Geiselberger als einem „nicht tragbaren Risiko“ von der Stadtratsliste, weil er einen Artikel in den Juso-Informationen unterstützt hatte, in dem Gewalt gegen Autoritätspersonen als diskutables, wenn auch ungeeignetes Mittel erwogen wurde. Die um die Jahreswende durchgeführten Neuwahlen in den einzelnen Sektionen erbrachten dann eine tiefgreifende Änderung. 40 Prozent der Delegierten wurden ausgewechselt und eine eindeutige Vogel-Fronde aufgebaut, Der Rechenschaftsbericht des abtretenden Vorstands enthielt dementsprechend eine weitgehende Bankrotterklärung. „Die politische Entwicklung der Münchner Partei“' — so heißt es in der Schrift — „war der Berichtszeit durch schwere, zum

Teil erbitterte innere Auseinandersetzungen“ und einen „sich ständig verschärfenden Richtungsstreit“ gekennzeichnet. „Über den materieller Inhalt der beiden Richtungen“ — bürgerlich-konservativ und progressiv-sozialistisch —, „über die Vereinbarkeit ihrer Ziele mit dem Gcdes-berger Programm, über die Frage ob die von der einen Richtung angestrebten Massenbewegungen tatsächlich den gewaltlosen Übergang in eine sozialdemokratische Gesellschaftsordnung ermöglichen und darüber, ob der Richtungsstreit und die fortgesetzte öffentliche Kritik eigener Mandatsträger der Partei nütze oder schade, hat der Vorstand keine Einigung erzielen können.“

Oberbürgermeister Vogel begnügte sich deshalb auf dem Parteitag mit einer kurzen, von Resignation getragenen Erklärung. Als einzigen Fortschritt wertete er die Tatsache, daß der Richtungsstreit, der nicht nur in München, sondern in vielen Städten der Bundesrepublik stattfindet, heute in München jedenfalls weitgehend als Tatbestand anerkannt werde. Die Zielsetzungen der Richtung, die sich selbst zu Unrecht „progressiv-sozialistisch“ nenne, halte er unverändert für inhaltlich falsch und taktisch gefährlich. Klassenkampf, Vollsozialisie-rung, Doppelstrategie, Qualifizierung des Staates als Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse seien Rückschritte hinter Godesberg. Ein endgültiger Sieg dieser Richtungen werde die Sozialdemokraten die Mehrheit und die parlamentarische Macht kosten — im Bund, in den Ländern und in den Städten. Im übrigen werde er jedoch Mehrheitsentscheidungen respektieren, sie aber ehrlicherweise nicht begrüßen. Er wünsche seiner Partei, die in ihrer Geschichte schon einmal an der Macht gescheitert sei, daß dies kein zweites Mal geschehe.

Keine Spaltung

Schöfberger, der von gut 70 Prozent aller Delegierten gewählt wurde, sowie seine Stellvertreter, die sich aus dem Vorsitzenden der bayrischen IG-Metall, Essl, dem Bundesvorstandsmitglied der Jungsozialisten, Kolo, und dem seinerzeit ebenfalls abgewählten Jungsozialisten Bleibinhaus zusammensetzen, markieren eine deutliche „linke“ Reaktion auf den „rechten“ Vorstand mit Dr. Vogel.

Parteisekretär und Parteisprecher sind bereits zurückgetreten, um gegen eine Politik zu protestieren, „die nur einem begrenzten Teil dieser ftWiridTeneliJ'wird und'Sie auch nur von einem sehr begrenzten Teil der Mitglieder getragen wird“. Der Streit in der Münchner SPD geht somit, wenn auch unter anderen Vorzeichen, weiter. Nach den Kommunalwahlen, bei der die SPD aller Voraussicht nach ihre absolute Mehrheit verlieren wird, dürfte die „Lassalle-Fraktion“ wieder stärkere Konturen und mehr Einfluß gewinnen. Die Hoffnung auf einen parteiinternen Kompromiß ist in der Münchner SPD, trotz aller Konflikte, doch nicht ganz aufgegeben worden. Denn eines hat der Parteitag überzeugend dargelegt: auch im Verlauf der erbittertsten Konfrontationen ist der Gedanke einer Parteispaltung nie ernstlich zur Gefahr geworden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung