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Gesetzlich oder gerecht ?

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Weder der einzelne noch die Gesellschaft können ohne Gesetze existieren. Sie reichen jedoch nicht aus, um menschliches Handeln zu rechtfertigen, denn Gerechtigkeit kann sogar gegen das Gesetz stehen.

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Weder der einzelne noch die Gesellschaft können ohne Gesetze existieren. Sie reichen jedoch nicht aus, um menschliches Handeln zu rechtfertigen, denn Gerechtigkeit kann sogar gegen das Gesetz stehen.

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Unter Gesetz ist die menschliche Verhaltensregel mit dem Anspruch auf Befolgung zu verstehen. Die Sanktion muß nicht in der Hand des Staates liegen, sie kann in der Ächtung durch eine Gemeinschaft ebenso bestehen wie in dem psychologischen Druck jeder solcher Verhaltensregeln.

Nach solcher Fremdbestimmung lebt jeder von uns, denn es ist ganz unmöglich, jeden Augenblick das eigene Verhalten völlig losgelöst von befeits Eingeübtem neu zu entscheiden.

Gerechtigkeit ist eine menschliche Erkenntnis und eine menschliche Empfindung, die richtiges und falsches Handeln bewertet. Dem Menschen scheint die Gabe angeboren zu sein, Bruchstücke der vorgegebenen göttlichen Ge-

rechtigkeit als richtig zu erkennen und ihre Befolgung als befriedigend zu empfinden.

An der Wende zum dritten Jahrtausend erschrickt der Mensch vor der möglichen Perfektionierung menschlicher Verhaltenssteuerung durch die Mittel einer genau vorausberechenbaren Technik. Auch das immer komplizierter werdende Staatsgefüge

führt zu eiher Sehnsucht nach Freiräumen.

Die Kirche sieht sich in der Tradierung von Wertvorstellungen, die sehr entscheidend menschliches Handeln beeinflussen, zwei Lagern gegenüber. Die einen sehen in der Kirche den Hort der Ordnung, der Sicherung abendländischer Werte; sie erwarten in ihr die Bewahrung sich auf Gottes Willen berufender Aussagen vor einer Welt, die immer mehr Traditionen in Zweifel zieht.

Auf der anderen Seite wird das Evangelium von der Freiheit des Christenmenschen zum Banner eines Aufbruches, und die Betonung von Gewissen und persönlicher Schuld sind ein Steigbügel dafür, überkommene Gebote in Frage zu stellen.

Kulturpessimismus und Befreiungsideologie machen vor den

Gläubigen dieser Kirche nicht halt.

Die Strafrechtslehre und die Judikatur haben eine ganze Fülle von Rechtsinstrumentar^en geschaffen, tatbestandsmäßiges Verhalten im Einzelfall nicht strafrechtlich sanktionieren zu müssen. Die Rechtfertigungsgründe sind nicht taxativ geregelt. Es wurde insbesondere davon abgesehen, den übergesetzlichen Notstand, der auf einer allgemeinen Güterabwägung beruht, einer gesetzlichen Regelung zu unterziehen.

Vielmehr ist es der Rechtsprechung überlassen, im Einzelfall zu prüfen, ob nicht immer der Schutz eines höherwertigeren Interesses die Verletzung eines geringeren rechtfertigt.

Im Zuge der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale ist der Oberste Gerichtshof gezwungen, die Rechtsbegriffe immer detaillierter zu definieren. Kurz vor der Aufhebung des alten Strafgesetzes aus dem Jahre 1852 im Jahre 1975 hat der Oberste Gerichtshof noch immer neue Rechtsätze formuliert.

Es war also in über 100 Jahren nicht möglich, das Gesetz sozusagen auszujudizieren, sondern im Gegenteil, die Rechtsprechung ist durch die Vielfalt der in der Lebenswirklichkeit vorkommenden Geschehnisse vor immer neue Rechtsprobleme gestellt. Je detaillierter das Gesetz die Materie regelt, umso weniger entspricht dieses Gesetz bei seiner Anwendung im Einzelfall den Bedürfnissen fallgerechter Lösungen.

Diese Erfahrung führt zu grundsätzlichen Überlegungen über die Bindung an das Gesetz überhaupt. Nicht die wörtliche, sondern die teleologische Auslegung ist die wichtigste. Die Bindung des Staatsanwaltes, alle ihm bekannt gewordenen Strafsachen verfolgen zu müssen, wird im internationalen Vergleich sehr verschieden gesehen. Während wir im kontinental-europäischen Bereich aus den Gesetzen die Gerechtigkeit durch Deduktion ermitteln wollen, istdas anglo-ame-rikanische Recht mit seinem case-law einen anderen Weg gegangen und sucht durch Analogie zu vergleichbaren Fällen eine bessere Fallgerechtigkeit zu erreichen. Das Mißtrauen gegen den Juristen ist der Grund für die Laiengerichtsbarkeit und für das Gnadenrecht des Bundesprä s^identen.

Die Aussage des Evangeliums erscheint eindeutig: „Ich bin nicht gekommen, die Gesetze aufzulösen, sondern sie zu erfüllen" (Matthäus 5, 17). Und was dieses Erfüllen bedeutet, stellt Christus sogleich klar: Nicht nur wer den anderen tötet, sondern auch wer seinem Bruder nur im Herzen zürnt, versündigt sich.

Also nicht die wörtliche, sondern die teleologische Auslegung des Gesetzes rechtfertigt das Handeln. Jedes Gesetz ist unter dem Blickwinkel der Gottes- und der Nächstenliebe zu interpretieren (Römer 13, 8 ff).

Gerechtigkeit kann also durch Gesetze nicht juristisch in Besitz genommen werden. Wenn das Gesetz unvollkommen ist und die Gerechtigkeit im Einzelfall nicht garantiert, so müssen wir die Gerechtigkeit außer, neben und sogar entgegen dem Gesetz suchen. Dann dürfen wir uns nicht ängstlich an das Gesetz anklammern und uns damit im Besitz der Gerechtigkeit wiegen.

Die Hoffnung liegt in der Erwartung, daß der Geist, der hinter den einzelnen Gesetzen steht, dem Buchstaben Leben einhaucht und Uberzeugungskraft verleiht, so daß die Befolgung des Gesetzes nicht als Bürde, sondern als Erfüllung empfunden wird.

Wir brauchen das Gesetz. An ihm muß sich das Gewissen orientieren können. Aber nur wenn seine Erfüllung in teleologischer Auslegung unter dem Liebesgebot sichtbar wird, wird die Kirche zum Ort der Hoffnung der Menschheit.

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