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Glaube und moderne Gesellschaft

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Bei der Wochenendtagung des Bü-dungshauses Retzhof bei Leibnitz legte der Dekan der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät, Wilhelm Dantine, den Finger auf ein tiefergehendes Problem zum Verständnis der Tagungsthematik „Glaube und moderne GeseUschaft“. Dantine erläuterte entlang der kirchengeschichtlichen Zeitachse von Christus bis zur Gegenwart, daß es praktisch bis zur Französischen Revolution gesamtkirchlich auf evangelischer und katholischer wie reformatorischer Seite nie dazu gekommen war, eine genaue christliche ZielvorsteUung der GeseUschaft und eine spezifisch christliche GeseUschaftsethik zu entfalten.

“ Zwar hatte es immer wieder Ansätze (zum Teü unglückseliger Art) gegeben - bei Augustinus, bei Calvin, in den Ketzerbewegungen, bei den Bettelorden, den Bogumilen, den Quäkern und in der Cromwellschen Revolution. Aber im großen und ganzen hatte die christliche Religion Strukturen und Institutionen im gesellschaftlichen Bereich relativ unkritisch übernommen, mit Tabu-Zonen umgeben und auch noch sanktioniert. Ein weitgehendes gesellschaftsethisches Desinteresse hatte im Christentum von Anfang an zu raschen Anpassungen und nicht hinterfragten Ubernahmen zeitbedingter Gesellschaftsformen geführt.

Es hat bis heute tiefwirkende Folgen, daß ausschließlich christlich begründete gesellschaftliche Zielvorstellungen erst nach und nach entwickelt wurden, als die einigermaßen einheitliche christlich orientierte Gesellschaft vor rund 150 Jahren definitiv zerfiel und der pluralistische Staat, die radikale Säkularisierung und die zunehmende Bedrohung durch technologische Manipulation die christlichen Religionen zum Uberdenken ihres eigenen gesellschaftspolitischen Standortes herausforderten. In der heutigen Theologie stellte Dantine hingegen eine völlig andere Zuordnung von Agendum und Credendum und eine

Entdeckung der systemkritischen Potenz des Evangeliums fest, das gerade aus dem Glauben eine besondere Motivation für einen Einsatz in der Welt und zugunsten einer besseren Gesellschaft schöpft.

Der zweite Referent, der aus Krain stammende Soziologe der Universität Konstanz, Prof. Thomas Luckmann, erblickte in der Diskussion vor allem in, der Indifferenz gegenüber Glaube und Religion in weiten Kreisen der westlichen Welt eines der Hauptprobleme für die Zukunft des Glaubens. Diese Zukunft laufe im Westen sicherlich auf eine Marginalisierung des Stellenwertes von Religion und Kirche im soziologischen Sinn hinaus, ohne daß befürchtet werden müsse, das Absinken der Religiosität bewege sich auf den Nullpunkt zu. Begründeten früher religiöse Grundwerte die gesellschaftlichen Institutionen und Maßnahmen, so treten und traten seit der Aufklärung zweckrationale Zielsetzung an die Spitze der gesellschaftlich anerkannten Wertpyramide.

Gleichzeitig habe die Gesellschaft zunehmend durchschaut, daß sie selbst ausgerechnet all jene Einrichtungen und Prozesse hervorgebracht habe, vor denen sie Angst bekommt und die oft „verhältnismäßig unvernünftig“ ausgewachsen seien. Noch sei es aber nicht soweit, daß deswegen Institutionen und deren Zweckhaftigkeit allgemein und prinzipiell in Frage gestellt werden, meinte Luckmann.

Der Grazer Theologieprofessor Philipp Harnoncourt strich in seinen Ausführungen besonders die Spannung, Glauben und Wissen als Einheit zu integrieren, hervor. Der Entschluß zu einem glaubenslosen Leben bringe oft neue Zwänge hervor, Utopien müßten oft religiöse Lebenskonzepte ersetzen. Harnoncourt arbeitete den Glauben als einen anderen Weg, Wahrheit und Wirklichkeit zu erfahren und zu erfassen heraus, der verstandesmäßig nie voll auflösbar sei. Glauben sei vor allem Sache des Vertrauens auf jemand.

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