6927275-1982_16_03.jpg
Digital In Arbeit

Kampf den Pragmatikern

Werbung
Werbung
Werbung

Europäische Sozialdemokratie in der Krise? wollten die angesehene deutsche Vierteljahreszeitschrift „Der Monat" und ihr englisches Schwesternblatt „Encounter" wissen und ließen bekannte Publizisten Antworten auf diese Frage geben.

Im Grunde genommen — und dies kommt auch in den einzelnen Beiträgen klar zum Ausdruck -ist das Fragezeichen überflüssig: die europäische Sozialdemokratie steckt mitten drin in einer schweren Krise — vor allem in einer Identitätskrise, die in einzelnen sozialdemokratischen Parteien gewiß noch im Untergrund schwelt, in anderen aber voll ausgebrochen ist, zuletzt in der bundesdeutschen SPD. .

Die Kampflinien verlauf en mitten durch die Parteien, ob sie nun in der Regierung oder in der Opposition sind, und ausgetragen wird ein Streit, der so alt ist wie die Sozialdemokratie selbst: flexible, nichtmarxistische Pragmatiker stehen einer scheinbar wachsenden Zahl starrköpfiger, neomarxistischer Dogmatiker gegenüber.

Am deutlichsten ist die Krise der Sozialdemokratie bislang in Großbritannien hervorgetreten, und sie hat ja auch zur Spaltung der Labour Party und zur Gründung der „Sozialdemokratischen Partei" (SDP) geführt.

Melvin J. Lasky, Herausgeber von „Encounter Magazine", weist in seinem Beitrag in „Monat" auf die „zwei Seelen" hin, die sich in „der faustischen Brust der britischen Labour Party" eingenistet hätten:

„Sozialdemokratie hat dort, wo sie real am besten ist, immer die Ausweitung der .substantiellen Errungenschaften politischer Demokratie auf neue sozio-ökono-mische Gebiete bedeutet. Wo sie am schlechtesten ist, wischt sie kurzerhand die .nicht tatsächlichen' , .rein formalen' Freiheiten einer parlamentarischen

.Schwatzbude' und einer .korrupten bürgerlichen Presse' vom Tisch und agiert für die uneingeschränkte Macht eines parteigelenkten Staates, der mit einem Schlag alle menschlichen Probleme lösen würde. Einige Sozialisten glauben an politische Freiheit. Anderen ist sie ganz egal".

Lasky führt damit auf das Kernproblem hin. Denn die „zwei Seelen" haben sich freilich nicht nur in der britischen Labour Party eingenistet, sie finden sich heute in allen „Brüsten" der sozialdemokratischen Parteien Europas. Nur ist in der englischen Labour Party die eine, die dogmatische Seele so stark geworden, daß es für die andere, die pragmatische.unerträglich wurde.

Und was hat zu diesem Exodus der Pragmatiker aus der Labour Party geführt? Lasky meint das Uberhandnehmen des totalitären Potentials, des sozialistischen Radikalismus, hineingetragen in die Labour Party von der 68er Generation, der im Laufe der 70er Jahre der Eintritt zu den Parteitagungen und -konferenzen gewährt worden war.

Seine Diagnose trifft gewiß auch für andere sozialdemokratische Parteien Westeuropas zu, wo die Entwicklung ähnlich verlaufen ist beziehungsweise verläuft. Die dogmatische Linke marschiert, unterwandert, protestiert und demonstriert ihre Stärke zusehends auch in der SPD, der niederländischen PvdA, den skandinavischen sozialdemokratischen Parteien, weniger spektakulär.aber doch auch in der SPÖ.

Und was Frankreich betrifft, weist der Politologe Francois Fej-tö in seinem Beitrag im „Monat" darauf hin, „daß der große Kampf um die allgemeine Marschrichtung der nächsten sieben Jahre vor allem in den Reihen der sozialistischen Parteien ausgetragen werden wird".

Fragen der Sicherheitspolitik (NATO-Nachrüstung, nicht in Frankreich), der Energiepolitik (Kernenergie), der Wirtschaftsund Beschäftigungspolitik stehen (gerade auch beim Münchner SPD-Parteitag) im Vordergrund der Auseinandersetzung innerhalb der sozialdemokratischen Parteien.

Im Hintergrund geht es um mehr: Eine mit einer Uberfülle historischen Selbstvertrauens der Sozialisten, das in dem „Glauben an die überlegene linke Moral und überlegene linke Intelligenz" wurzelt (Lasky), ausgestattete Gruppe von Dogmatikern setzt zum Sturm gegen die pragmatischen Bastionen in der Sozialdemokratie an. In diesem Kampf geht es nicht zuletzt um die politische Freiheit überhaupt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung