6810911-1972_33_12.jpg
Digital In Arbeit

Keramik vom Gran Sasso

Werbung
Werbung
Werbung

Im Schatten der 2000 Meter aufragenden Steilabstürze des Gran Sasso liegt, vom großen Touristenstrom auch heute noch unberührt, das Städtchen Castelli. Fast nur Bergsteigern und Felskletterern ist es bekannt als Ausgangspunkt für kühne Exkursionen, die kaum hinter berühmten Hochalpentouren zurückstehen. Aber nicht die landschaftlichen Schönheiten haben seinen

Ruhm begründet, sondern die Kunst der Keramik, die hier seit vielen Jahrhunderten gepflegt wird. Die bunten Majoliken von Castelli, die in unzähligen Werkstätten hergestellt werden, bestimmen die Architektur des Abruzzenortes.

Welch Gegensatz zwischen dem harten, grauen Felsgestein des Hochgebirges, das die kleinen Häuser wie unnahbare mittelalterliche Festungen erscheinen läßt, und der Farbenpracht der so zerbrechlichen Terrakotten, die hier wie an vielen anderen historischen Stätten die Zeit besser überdauern als Stein und Erz. Als ob die menschliche Kunst den rohen Gewalten der Natur Kampf ansagen wollte, um zu erhärten, was dauerhafter sei.

Uralt ist die Tradition der Keramik von Castelli, von phantasiebegabten Handwerkern seit dem 13. Jahrhundert von Generation zu Generation vererbt. Die fünf Farben ihrer Motive, Blau, Gelb, Orange, Stumpfgrün und Ocker, verleihen der Atmosphäre des Ortes etwas Unwirkliches, Verträumtes, dem gewöhnlichen Alltag Entrücktes.

Seit Anbeginn dient das keramische Kunsthandwerk von Castelli drei Zielen: Zunächst war es auf rein funktionelle Gebrauchsgegenstände abgestellt. Aber schon in frühester Zeit prägte sich die tiefe Gläubigkeit der abruzzesischen Gebirgsbevölkerung in religiösen Darstellungen aus. Lebendige Zeugen hiefür sind der prächtige Keramikfußboden und die Hunderte von Votivtafeln aus dem 15. bis 17. Jahrhundert, die in der kleinen Wallfahrtskirche San Donate von der Decke hängen. Die Pfarrkirche birgt als wahres Kleinod dieser Kunst ein Altarbild mit einer Madonnendarstellung, das F. Grue, einer der bedeutendsten Künstler des Ortes, 1647 geschaffen hat.

Die Keramik von Castelli erschöpft sich aber nicht in christlichen Motiven. Die Werkstätten, die auf Schritt und Tritt anzutreffen sind, prägen das gesamte Leben des Ortes. Die Einfälle der Kunsthandwerker erstrecken sich auf die verschiedenartigsten Schöpfungen, denen glücklicherweise noch die Entartung zu industrieller Massenerzeugung erspart geblieben ist. Castelli konnte sich bis heute mit Erfolg des Ansturmes des Maschinenzeitalters erwehren. Wie lange noch?

Die künstlerische Tradition der „Botteghe“ wird von einem lokalen Keramikinstitut gehütet, das demnächst aus einem alten Kloster in ein den Anforderungen besser entsprechendes neues Gebäude übersiedeln wird. Das ehemalige Kloster von Castelli mit seinem herrlichen majolikageschmückten Kreuzgang erscheint aber geradezu dafür prädestiniert, ein Museum der bodenständigen Keramik aufzunehmen und damit eine wertvolle Mission für ein gedeihliches Fortleben dieser abruzzesischen Volkskunst zu erfüllen. Aus lebendigen Wechselbeziehungen zwischen einem tra-ditionspflegenden Museum und einer fortschrittlichem Schaffen gewidmeten Schule würden den Werkstätten von Castelli zweifellos ständig neue Auftriebskräfte zufließen und dem kunstliebenden Städchen Castelli ein aussichtsreicher Weg in die Zukunft eröffnet werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung