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Rote Brigaden: „Klassenkrieger für den Kommunismus“

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Der „Tagesbefehl“ der Roten Brigaden -mit dem Moro-Photo der Römer Zeitung „II Messaggero“ zur Verfügung gestellt - verdient in vollem Umfang veröffentlicht, wenigstens genau analysiert zu werden. Er bietet die Handhabe für das Verständnis eines großen Teils des heutigen Terrorismus und weitverbreiteten Verbrechertums. Lange ist es her, daß ein Sträfling aus der Reihe der Kriminellen auf den das Regina-Coeli-Gefängnis besuchenden Johannes XXIII. zuging und den Papst fragte: „Heiligkeit, ich bin ein Mörder, habe auch ich Aussicht, in den Himmel zu kommen?“ Papst Johannes XXIH. umarmte daraufhin den Mörder und bekundete mit seiner großen Geste, wie groß das Verzeihen gegenüber der Reue sein kann. Was aber dann, wenn sich der Mensch eine gottähnliche Stellung anmaßt und richtet, nachdem er bereits gerichtet hat?

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Der „Tagesbefehl“ der Roten Brigaden -mit dem Moro-Photo der Römer Zeitung „II Messaggero“ zur Verfügung gestellt - verdient in vollem Umfang veröffentlicht, wenigstens genau analysiert zu werden. Er bietet die Handhabe für das Verständnis eines großen Teils des heutigen Terrorismus und weitverbreiteten Verbrechertums. Lange ist es her, daß ein Sträfling aus der Reihe der Kriminellen auf den das Regina-Coeli-Gefängnis besuchenden Johannes XXIII. zuging und den Papst fragte: „Heiligkeit, ich bin ein Mörder, habe auch ich Aussicht, in den Himmel zu kommen?“ Papst Johannes XXIH. umarmte daraufhin den Mörder und bekundete mit seiner großen Geste, wie groß das Verzeihen gegenüber der Reue sein kann. Was aber dann, wenn sich der Mensch eine gottähnliche Stellung anmaßt und richtet, nachdem er bereits gerichtet hat?

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Im Tonfall von Hohenpriestern eines reinen Kommunismus beurteilen die Roten Brigaden ihre eigenen und fremden Handlungsweisen. Moros fünf erschossene Leibwächter werden kurzerhand als „Agenten des berüchtigten Spezialkorps“ (das heißt der An-titerrorismus-Truppe) bezeichnet. Sie mußten vernichtet werden, um den „mächtigsten Hierarchen“, Theoretiker und „Strategen“ des „christdemokratischen Regimes, das seit 30 Jahren das italienische Volk knechtet“, in den „Volkskerker“ sperren zu können.

Der Ausdruck Hierarchie („gerarca“) ist der Duce-Herrschaft entnommen. Die Roten Brigaden stellen also Moro und seine Partei auf die Stufe eines Mussolini und seines Faschismus. Die Absicht, die bisherigen christdemokratischen Regimeträger von allen Linkskräften zu trennen, hegt auf der Hand. Seit 15 Jahren wird in Italien von Seiten linksstehender Massenmedien alles Faschistische systematisch verteufelt. In antifaschistischen und antideutschen Filmen mit Sujets vor allem aus der Besatzungszeit 1943 bis 1945 wird der entsprechende Haß stets geschürt und konnten alte Wunden nie verheilen.

Moro wird überdies die Bezeichnung eines Alt-Mafia-Bosses „Padrino“ beigelegt. Er ist „der treueste Befehlsvollstrecker imperialistischer Zentralen“. Wo diese „Zimmer der Druckknöpfe“ hegen, wird verschwiegen, läßt sich aber dem übrigen Jargon entnehmen, wenn von Multis und Imperialismus die Rede ist, die „natürlich“ in den USA beheimatet sind.

Für die Roten Brigaden hegt der Kapitalismus in den letzten Zügen. Seine Krise kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Seine ganze Domina-tion ist in Auflösung begriffen. Diesen Prozeß zu beschleunigen, damit der wahre Kommunismus sich bald durchsetzen kann, ist Aufgabe seiner Vorhut. Eine baldige Verwirklichung vermag größeres Blutvergießen zu verhüten.

Berlinguers Versuch, das „System nationaler Superstaaten liberalen Zuschnitts“ von innen her zu überwinden, ist für die Rotbrigadisten Utopie. Derart spielt die KPI lediglich die Rolle des nützlichen Idioten mit umgekehrten Vorzeichen des von Lenin geprägten Begriffes: Sie werden von den Christdemokraten am Narrenseil herumgeführt, während es doch ihre Aufgabe wäre, einen Moro an die Leine zu binden.

Die Rote Brigade erklärte nicht nur den USA und ihrem verlängerten Arm in Europa - einer Democrazia Christiana -, sondern auch dem soeben gebildeten vierten Kabinett Andreotti den Krieg. Sozialisten und Kommunisten, die sich von der DC einfangen lassen, sollen die Augen geöffnet werden. Dies kann auch mit Moros Entführung und seiner Verurteilung durch ein Volksgericht geschehen. „Damit wird allerdings nicht ein Kapitel beendet, sondern die Revolution «röffnet, die ,die Bewegung des offenen Widerstandes' in Gang gesetzt hat. Die Mobilisierung der Kräfte zum ,Klassenkrieg für den Kommunismus' wird sich bald zu Worte melden.“

Vieles spricht dafür, daß die Roten Brigaden hinsichtlich des Zeitpunktes und der Person des Entführten einer doppelten Fehlspekulation zum Opfer gefallen sind. Wahrscheinlich haben sie bei Ausbruch der Regierungskrise vom 16. Jänner mit der Unmöglichkeit der normalen Beilegung durch Bildung eines neuen Kabinettes gerechnet. Im heißen Klima eines Wahlkampfes vor Neuwahlen hätte die „Erledigung“ Moros und seiner Gorillas eher zu einer Spaltung der öffentlichen Meinung, vielleicht sogar zu einem Bürgerkrieg führen können. Wenn sie jetzt zugeschlagen haben, geschah es vielleicht nur aus Verzweiflung, um kurz vor der endgültigen Beilegung der Krise für die von ihnen ersehnten Spannungen „zu retten, was zu retten“ ist. Dabei ist ihr Bemühen - bisher (!) -erfolglos geblieben: Besonders schnell

- in neun Stunden statt sieben Tagen

- sind Vertrauensdebatte und Vertrauensabstimmung für Andreottis Mannschaft über die Bühne gegangen. Die Empörung über die Ermordung der fünf Leibwächter Moros war im ganzen Lande einhellig und spontan.

Wenn es die Terroristen darauf abgesehen haben, die seit dreißig Jahren herrschende Partei und die seit Men-

schengedenken wenig beliebten Ordnungshüter vom Volk zu trennen und eine eigentliche Spaltung zwischen „pays legal“ und „pays reel“, zwischen Machtträgern und Untergeordneten, herbeizuführen, haben sie ihre Opfer denkbar schlecht ausgewählt. Ganz Italien verneigte sich am Samstag beim feierlichen Staatsbegräbnis vor den fünf Bahren der ermordeten Moro-Leibwächter. Besonders auffallend die Präsenz der Jugendlichen aller politischen Bewegungen und sozialen Schichten.

Aldo Moro war nicht nur DC-Präsi-dent, sondern auch Hochschulprofessor. Einer der gefallenen Leibwächter, Carabinieri-Marschall Leonardi, hatte Moro seit fünfzehn Jahren überall hin -auch in die Römer Uni - begleitet. „Era un amico“ - erklärte eine Studentin mit bewegten Worten am Bildschirm. An Moro schätzte sie besonders die tolerante Haltung auch gegenüber Andersdenkenden, sogar den sogenannten Autonomen. Zwischen Studenten und ihren Professoren bestand ein fortgesetzter Dialog. Man konnte die Vorlesung unterbrechen und Fragen stehen. Seinem „Schatten“ war Moro freundschaftlich verbunden.

Moros menschliche, ja christliche

Haltung im besten Sinne des Wortes war allgemein bekannt, vor allem auch bei seinen politischen Gegnern. Forte-braccio, Deckname des Glossenschreibers der kommunistischen Zeitung „L'Unitä“, trat aus seiner Anonymität: „Ich war ein christdemokratischer Abgeordneter. 1958, zum Zeitpunkt meines Abschiedes, war Moro als Fraktionschef der Democrazia Christiana mein Chef. Er hörte sich die Gründe meines Übertrittes zur KPI

geduldig an. Keine Rüge, vielmehr Verständnis. Nie war mir Moro so nahe als im Augenblick meiner Absage an seine Parteigenossen.“

Für solche Erklärungen eines Genossen auf ihrer rechten Seite haben die Rotbrigadisten wenig übrig. Sie leben nach dem Satz von Karl Marx: „Die Gesellschaft muß verändert werden; es genügt nicht, sie zu verstehen.“

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