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Sonderfall Leben

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Eine einzelne nur in einem einzigen Exemplar vorhandene Atomgruppe ist Ausgangspunkt geordneter Vorgänge, die in wunderbarer Weise und nach höchst subtilen Gesetzen aufeinander und auf die Umwelt abgestimmt sind. Ich sagte, sie sei nur in einem Exemplar vorhanden; wir haben ja das Beispiel des Eies und des einzelligen Organismus vor Augen. In den folgenden Stadien eines höheren Organismus finden wir zwar eine Vielzahl von solchen Exemplaren; wie groß ist diese Zahl aber? Soviel ich weiß, etwa 10M bei einem erwachsenen Säugetier. Was bedeutet das schon! In einem Kubikzentimeter Luft sind über sechzigtausendmal mehr Moleküle enthalten.

Im übrigen ist auch die Art ihrer Verteilung im Organismus zu bedenken: jede Zelle enthält nicht mehr als eine solche Molekül--gruppe (oder zwei, wenn wir an die diploiden Zellen denken). Wie wir wissen, besitzt eine solche Zentralstelle eine derartige Macht über die einzelne Zelle, daß wir sie ruhig mit einer örtlichen Regierungsstelle vergleichen dürfen, die mit den anderen gleichartigen Ämtern, die über den ganzen Körper verteilt sind, mühelos mittels des gemeinsamen Codes verkehrt.

Es bedarf keiner dichterischen Vorstellungskraft, sondern nur klarer und nüchterner wissenschaftlicher Überlegung, um zu erkennen, daß die gesetzmäßige und ordnungsgemäße Abwicklung dieser Vorgänge von einem ganz anderen „Triebwerk” bestimmt wird als vom „Wahrscheinlichkeitsmechanismus” der Physik. Denn es ist ganz einfach eine Beobachtungstatsache, daß das leitende Prinzip in jeder Zelle in einer einzigartigen Atomverbindung verkörpert ist, die nur in einem oder hin und wieder in zwei Exemplaren vorhanden ist. Es ist ebenfalls eine Beobachtungstatsache, daß die von dieser Atomverbindung verursachten Vorgänge in mustergültiger Ordnung ablaufen. Es ist gleichgültig, ob wir es erstaunlich oder selbstverständlich finden, daß eine kleine, aber hochorganisierte Atomgruppe fähig ist, in dieser Weise zu wirken; das ändert nichts an der Einmaligkeit dieses Tatbestandes, der ausschließlich bei der lebenden Substanz vorkommt.

Weder Physiker noch Chemiker sind bei der Erforschung unbelebter Materie je auf Erscheinungen gestoßen, die sie auf diese Weise hätten deuten müssen. Da der Fall nie eingetreten ist, erfaßt ihn unsere Theorie auch nicht — unsere schöne statistische Theorie, auf die wir mit Recht so stolz waren, nicht nur weil sie uns erlaubte, hinter die Kulissen zu sehen und zu beobachten, wie aus atomarer und molekularer Unordnung die großartige Ordnung exakter physikalischer Gesetze entsteht, sondern auch, weil sie zeigte, daß das wichtigste, das allgemeinste und umfassendste Gesetz, das Gesetz der Entropiezunahme, auch ohne besonders auf den Fall zugeschnittene Annahmen verständlich ist, da diese ja nichts anderes ist als die molekulare Unordnung.

Offenbar gibt es zwei verschiedene „Mechanismen” zur Erzeugung geordneter Vorgänge, den „statistischen Mechanismus”, der Ordnung aus Unordnung erzeugt, und den neuen Mechanismus, der „Ordnung aus Ordnung” schafft. Dem unvoreingenommenen Verstand erscheint das zweite Prinzip viel einfacher und einleuchtender, sicherlich mit Recht. Gerade deshalb waren die Physiker so stolz, daß sie auf das andere Prinzip gestoßen waren, auf das der „Ordnung aus Unordnung”, nach dem die Natur tatsächlich verfährt und das allein die große Linie der natürlichen Vorgänge, vor allem ihre Unumkehrbarkeit, verständlich macht.

Wir dürfen aber nicht erwarten, daß die daraus abgeleiteten „Gesetze der Physik” ohne weiteres das Verhalten der lebenden Substanz erklären, deren auffallendste Merkmale sichtlich weitgehend auf dem Prinzip der „Ordnung aus Ordnung” beruhen. Man wird nicht erwarten, daß zwei vollständig voneinander verschiedene Mechanismen die gleiche Art von Gesetzlichkeit hervorbringen — man wird schließlich auch nicht erwarten, daß der eigene Hausschlüssel auch zur Türe des Nachbarn paßt.

Gekürzt aus: „Was ist Leben?” von Erwin Schrödinger. Verlag Piper, München 1987. Neuausgabe mit einer Einführung von Ernst Peter Fischer.

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