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„Symptom der Gesellschaftskrise“ oder „Bewegung der Perspektivlosen“

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Wer sie selbst miterlebt oder von außen her mitverfolgt hatte - die Studentenrevolten des Frühjahres 1968 in der Bundesrepublik und in Frankreich - hat die B ilder dieser Tage nicht vergessen, kann sie nicht vergessen: die brennenden Autos und Barrikaden in den Straßen von Paris, die Tomaten, Eier und schließlich Pflastersteine werfenden Demonstranten in West-Berlin; hier wie dort die zurückschlagende Staatsmacht, verkörpert durch Polizeibe-

amte, die ihre Knüppel auf protestierende Studenten niedersausen ließen, mit Wasserwerfern und Tränengas dem „revolutionären Spuk“ ein Ende zu machen versuchten. Der Staat - in der Bundesrepublik Deutschland und mehr noch in Frankreich - schien in seinen Grundfesten erschüttert. Die akademische Jugend hatte sich mit ihren revolutionären Parolen in der Öffentlichkeit nicht nur Gehör verschafft, sie war ins Rampenlicht der Politik gerückt.

Zehn Jahre danach wird vielerorts Bilanz der Revolte gezogen - auch in Österreich, in Graz, wo die Bildungsakademie des ÖCV und des Grazer Cartellverbandes ein zweitägiges Symposium zum Thema „Die Studentenbewegung der sechziger Jahre“ veranstaltete. Freilich waren selbst zwei Tage zu kurz, um tiefer auf die Ereignisse einzugehen, die globalen Charakter hatten, waren doch von Kalifornien bis Japan junge Arbeiter, Schüler und Studenten auf die Straße gegangen, um gegen den Staat, die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen, die Unterdrückung in allen Bereichen des Lebens und gegen das militärische Engagement der USA in Vietnam zu demonstrieren. Und doch waren zwei Tage genug, um zumindest ein Licht auf die Studentenbewegung der Bundesrepublik zu werfen, die - wenn überhaupt - sicherlich den größeren Einfluß auf Österreich hatte als die Ereignisse in Frankreich, die mit den Pariser Mai-Unruhen den Höhepunkt der weltweiten Protestbewegung geboten haben dürften. Mehr Licht auf das Jahr 1968 im Hinblick auf die Studentenbewegung zu werfen, ist gerade jetzt auch notwendig, da im Zusammenhang mit der Terror-Szene in der Bundesrepublik dunkle Schatten auf die APO, die Außerparlamentarische Opposition, fallen.

Einer, der Vorgeschichte und Ablauf der Studentenrevolte 1968 bis in kleinste Details zu kennen scheint, war in Graz mit dabei: Dr. Werner A. Perger, Korrespondent der .Presse“ in Bonn, saß vor zehn Jahren noch in seiner Redaktion in Wien, als über den Fernschreiber die Meldung des Attentates auf Rudi Dutschke tickte. Damals auch Chefredakteur der „Academia“, einer Zeitschrift, die vor allem Hintergründe der Studentenbewegung zu durchleuchten versuchte.

Sein Einleitungsreferat überforderte viele Studenten und junge Akademiker, die vor zehn, Jahren noch ihre Pflichtschuljahre absolvierten. Tatsächlich klingt heute vieles von damals unglaublich, hört sich wie ein Polit-

krimi an. Ja man kann sich diese hochexplosive Stimmung in der Studentenschaft heutzutage kaum vorstellen.

Wulf Schönbohm von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Eichholz bei Bonn studierte vor zehn Jahren noch in West-Berlin und war in einer Studentenfraktion tätig, die in Opposition zum damals tonangebenden SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, stand. Heute sieht er die gesellschaftlichen Auswirkungen der Studentenbewegung der sechziger Jahre im gesamten durchaus positiv, wenn sie auch gerade dem konservativen Lager, dem er nahesteht, die meisten Kopfschmerzen bereitet hatte. Als wichtigste Neuansätze der Studentenbewegung nannte er in seinem Referat die radikale und totale Infragestellung des Establishments und die neuartigen politischen Kampfmethoden, die in Berkely (Kalifornien) entwickelt worden waren.

Die Studentenbewegung habe eine Erweiterung des parteipolitischen Spektrums und eine Veränderung der parteipolitischen Landschaft verursacht So hätten die Rechtsradikalen zeitweise einen großen Aufschwung erlebt, als die NPD in zahlreichen Kommunal- und Landtagswahlen stark zunahm. Anderseits hätte der Zerfall des SDS 1968/69 und im weiteren Sinne der APO zur Aufsplitterung des linken Lagers geführt und neue linke Splitterparteien entstehen lassen: die orthodoxen Kommunisten formierten sich neu in der DKP, die Maoisten und Trotzkisten wurden stärker, in den etablierten Parteien -vor allem in der SPD - erhielt der äußerst linke Flügel Zuwachs und schließlich ging ein Teil der ehemaligen Studentenrevolutionäre in den Untergrund. Die Terrorszene entstand.

Überhaupt habe der Marxismus, der vorher keine Basis gehabt habe, eine Renaissance erlebt Nicht zuletzt deshalb, weil die Kritik der Studentenbewegung auf dem Neomarxismus eines

Marcuse, Habermas, Adorno und Horkheimer basierte, der dadurch- in weite Teile der Studentenschaft getragen wurde.

Die Reaktion der politischen Parteien bezeichnete Schönbohm als hilflos: „Sie waren überfordert, weil sie eine Systemdiskussion bis dahin nicht gewohnt waren.“ Der Referent sieht jedoch als positive Folge die intensive Grundsatz- und Programmdiskussion der demokratischen Parteien an, die sich nun auch mit zwei zentralen Themen der Studentenbewegung, der Entspannungspolitik sowie der Bil-dungs- und Gesellschaftspolitik, beschäftigen mußten.

Die nachhaltigste Auswirkung -meint Schönbohm - war aber die Politisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Dies deshalb, weil die neomarxistischen Thesen der Studentenbewegung durch die Medien popularisiert worden seien: „Ihre Kritik fand positive Resonanz bei Jugendlichen, Intellektuellen und in Schichten des 3ildungsbürgertums', jedoch nicht bei jenen, in deren Namen die Studenten angeblich demonstrierten, bei den Arbeitern.“

Die Umbruchstimmung der sechziger Jahre brachte aber auch einen Umschwung des politischen Klimas der siebziger Jahre mit sich. Stichwort Tendenzwende - die Reaktion auf die Reformbewegung. „Insofern hat die Studentenbewegung das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Heute erleben wir eine Renaissance des Konservativismus, eine Diskussion über den Konservativismus als politische Theorie hat eingesetzt.“ Doch Schönbohm sieht in diesem „Zurückschlagen des Durchschnittsbürgers“ auch eine Gefahr: „Wichtige kritische Reformansätze könnten erstickt werden.“ Denn die Gesellschaft brauche die grundlegende Infragestellung ihrer Prinzipien.

Auch ein unmittelbar Beteiligter der Studentenbewegung war zum Sympo-

sium nach Graz gekommen: Professor Dr. Bernd Rabehl, Mitstreiter von Rudi Dutschke, einer der vier „Evangelisten der APO“, heute Assistenzprofessor für Soziologie an der FU Berlin. Er ist nach wie vor Marxist, hat sich aber in das politische System der Bundesrepublik integriert, sucht die Konfrontation mit dem herrschenden System nicht mit Bomben oder revolutionärer Phrasendrescherei, sondern mit einer glaubhaften ideologischen Auseinandersetzung, was ihm von den CVern beim Grazer Symposium auch hoch angerechnet wurde.

Die Perspektive, in der er die Studentenbewegung jener Jahre sieht, ist freilich dieselbe geblieben: die marxistische. Also war die Studentenbewegung nur ein Symptom der gesellschaftlichen Krise, die durch die APO reflektiert wurde. Wichtig an der Studentenbewegung ist für Prof. Rabehl die RückOrientierung auf Marx, wobei vor allem die „Frankfurter Schule“ den SDS beeinflußte, der sich vorher von der SPD „entnabelt“ hätte und sich erst dadurch an der politischen Praxis hätte orientieren können. Rabehl, DDR-Flüchtling wie sein Kampfgenosse Dutschke, hatte „drüben“ zuvor den „Bankrott des orthodoxen Marxismus“ erlebt. Die von den Sowjets den Staaten im Osten aufgezwungenen Systeme waren ebenfalls ins Kreuzfeuer der Studentenkritik geraten. Ost-Berlin hatte den Genossen im westlichen Teil der Stadt dennoch mit finanziellen Mitteln, roten Fahnen und marxistisch-leninistischer Literatur unter die Arme gegriffen.

Hauptangriffspunkte waren laut Rabehl der Vietnamkrieg - für den SDS auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen faschistischen Vergangenheit, insofern eine innenpolitische Auseinandersetzung -, dann die Vorbereitung der Notstandsgesetze, die Ordinarienuniversität und die hochkonzentrierte Presse in der Bun-

desrepublik, namentlich der Springer-Konzern.

„Die Agitation der Studentenbewegung, die in der BRD unter der Hegemonie des SDS stand, traf bei den unzufriedenen Schülern und Studenten auf fruchtbaren Boden, sie wurde zu einer Massenbewegung bei der studierenden Jugend“, erklärt Rabehl. Und weiter: „Die Medien waren fasziniert, die Politisierung aller gesellschaftlichen Bereiche gelungen, wir waren zu einem innenpolitischen Faktor geworden.“ Der Durchbruch, meint Rabehl resümierend, sei jedoch nicht gelungen, gescheitert an der gesellschaftlichen Isolation. „In der Folge lösen

sich die politischen Zielsetzungen auf, einige sahen im Terror ihre Chance, andere engagierten sich in ML- (Marxis-mus-Leninismus)-Gruppen.“

Dr. Carl Gustav Ströhm, Osteuropakorrespondent der „Welt“ und der „Kleinen Zeitung“, war mit den historischen Analysen seines Diskussionspartners natürlich nicht einverstanden. Hatte Rabehl im Zusammenhang mit dem politischen System der BRD von einer von den Westmächten „verordneten Demokratie“ und von der „Studentenbewegung als Symptom der Krise“ gesprochen, sah Ströhm die BRD als Ergebnis des „Kalten Krieges“, der Furcht vor der Sowjetunion und ihrer Großmachtpolitik. Die Studentenbewegung falle mit der Krise der Universität zusammen, sie sei die „Bewegung der perspektivlosen Intellektuellen“ gewesen. Einigung oder ein Kompromiß waren da nicht zu erzielen: Die Konfrontation Springer-Studentenbewegung bleibt weiterhin aufrecht!

Die Abschlußdiskussion auf dem CV-Symposium über Folgen und Zukunft der Studentenbewegung war gekennzeichnet von der positiven Bilanzierung des Erreichten und einem sehr pessimistischen Ausblick in die Zukunft der Gesellschaft. Der steiri-sche Kulturlandesrat Professor Kurt Jungwirth überraschte durch seine Offenheit und positive Beurteilung der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich: Landesrat Jungwirth sieht als Erbe von 1968 die Bürgerbewegung und als Antwort darauf eine bürgernähere Politik, das Mißtrauen gegenüber der Großtechnologie, das gewachsene Bewußtsein für Solidarität, die Bereitschaft zum Engagement und die stärkere Wertschätzung der Phantasie und des Schöpferischen. 1968 sei vor allem die Bereitschaft zum „alternativen Denken“ aufgebrochen.

Fast wehleidig bedauerte Helmut Brandstätter, Vorsitzender der Hochschülerschaft der Universität Wien, daß es „so etwas wie 1968 nicht mehr gibt“. Brandstätter ortet an den Universitäten heute eine „Entpolitisie-rung, die immer schlimmer wird“. Und er folgert daraus: „Wenn die Entpoliti-sierung fortschreitet, geht die Gesellschaft in Richtung Totalitarismus.“ Deshalb müsse die Studentenschaft wieder politisiert werden. Prof. Rabehl sieht ähnliche Tendenzen auf Hochschulebene: „Da bildet sich eine Halbintelligenz heran, die im großen Stil politische Verantwortung verweigert.“ Er appellierte deshalb an alle Demokraten, ein Bündnis zu schaffen, das Christen, Konservative, Liberale und Sozialisten umfassen sollte, um dem „Symptom der Verweigerung“ mit demokratischer Verantwortung gegenübertreten zu können.

Einem Marxisten diese Worte zu glauben, fällt schwer, sieht man die historische Praxis des Kommunismus. Aus dem Munde Rabehls klangen sie glaubhaft, muß er sich als Professor der FU doch selber mit Studenten herumstreiten, die den ehemaligen SDS-Spitzenfunktionär als „autoritären Scheißer“ bezeichnen.

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