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„Im Düsenflugzeug Bürgerrechtskampf”

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Dr. Lips et ist Professor für Staats- und Sozialwissenschaft in Harvard. Er ist Verfasser mehrerer Bücher über Studentenaktivisten in Amerika und anderen Ländern, so von „Studenten und Politik” und „die Studentenrevolte in Berkeley”.

FRAGE: Wer sind die radikalen Studenten in den Vereinigten Staaten? Wie viele von ihnen gibt es? LIPSET: Alles in allem skid zwischen ein und zwei Prozent der amerikanischen Studenten radikale Aktivisten. Die größte Gruppe ist der „Verband der Studenten für eine Demokratische Gesellschaft” (Students for a Democratic Society, SDS), der die Zahl seiner Mitglieder mit 70.000 anigibt, in Wirklichkeit aber weniger hat. Wie viele es tatsächlich sind, ist schwer zu sagen. Die Führung behauptet, daß rund 6000 oder 7000 Leute Mitgliedsbeiträge zahlen. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, daß es in den USA siebeneinhalb Millionen College- Studenten gibt.

Die radikalen Studenten kommen im großen und ganzen aus Familien des oberen Mittelstandes, mit einem hohen Bildungsniveau und freien Berufen nachgehend, ideologisch zumeist linksliberal und sehr intellektuell. Fast alle Eltern dieser Studenten sind Akademiker. Die meisten Radikalen trifft man an erstklassigen Anstalten an, wie zum Beispiel Harvard, Chicago, Columbia, California, Reed, Swarthmore und Brandeis.

FRAGE: Können Sie Verallgemeinerungen über die Ziele der radikalen Studenten machen?

LIPSET: Im allgemeinen konzentriert sich der SDS auf die Anprangerung des „reaktionären, bösen Charakters des amerikanischen Kapitalismus”, des sich „hinter der Maske der amerikanischen Demokratie verbergenden Betruges”. Der SDS führt ins Treffen, daß die Demokratie ein Mechanismus sei, der einer Elite die Ausübung der Macht ermögliche, und daß diese herrschende Klasse mit demokratischen Mitteln die Kontrolle über die Gesellschaft haben will, nämlich durch Gewährung der Redefreiheit und der Betätigung als politische Opposition. Nach Ansicht des SDS sind die Massenmedien, also Fernsehen, dis Presse und dergleichen, Werkzeuge der Elite, mit der sie ohne Gewaltanwendung ihre Herrschaft über die Gesellschaft aufrechterhält.

Daher will SDS die Bevölkerung radikalisieren und die angebliche Heuchelei der Gesellschaft entlarven. Er will das ganze gesellschaftliche System zum Einsturz bringen. FRAGE: Wie ist das Verhältnis zwischen militanten Negerstudenten und den weißen Radikalen unter der amerikanischen Studentenschaft? LIPSET: An vielen Hochschulen gibt es neuerdings Gruppen von Negerstudenten, die sich Afro-Ameri- kanische Vereinigungen nennen. Auf Bundesebene sind sie nicht organisiert. Oft sind sie jedoch die radikalste Gruppe an dem College oder der Universität.

Auf den ersten Blick scheinen der SDS und die Afro-Amerikanischen Vereinigungen ähnliche Organisationen zu sein. In Wirklichkeit ist es aber nicht der Fall. Ja es ist sogar so, daß die militanten Neger Abstand vom SDS und anderen weißen Radikalen halten. Wo immer auch in letzter Zeit ein von dem Farbigen veranstaltetes Sit-in stattfand, ließen die Negerstudenten nicht zu, daß sich ihnen Weiße anschlossen, gleichgültig, wie radikal oder solidarisch diese waren.

FRAGE: Besteht irgendein Zusammenhang zwischen der Gärung an amerikanischen Hochschulen und an Universitäten in anderen Teilen der Welt?

LIPSET: Es gibt offensichtlich keine international gelenkte Bewegung oder Verschwörung. Anderseits unterhalten die radikalen Studentenorganisationen in verschiedenen Ländern ständig Kontakt miteinander. Dies geschieht größtenteils einfach durch die Massenmedien. Außerdem muß man bedenken, daß die verhältnismäßig niedrigen.

Kosten von Auslandsreisen und der Wohlstand vieler Studenten diese heutzutage dazu ermuntern, mit Düsenflugzeugen von einem Land ins andere zu fliegen. Es ist daheir kein Wunder, daß sich nicht wenige amerikanische Studenten an Studentenbewegungen in Großbritannien und Deutschland beteiligt haben.

Was vielleicht in unserer Zeit an den Studentenbewegungen am meisten verblüfft, ist die Ähnlichkeit, die in höchst verschiedenen Ländern hinsichtlich des Stils, der Ausrichtung und der Taktik besteht. Wenn wir den Sprachunterschied beiseite lassen, wird der Student in Frankfurt genauso sprechen wie sein Kollege in Paris, New York oder Rio de Janeiro. Dies, weil sie eine gemeinsame Weltkultur zu teilen scheinen, wobei die Universitätskultur noch ähnlicher ist.

FRAGE: Ist die radikale Studentenbewegung in Amerika einheitlich?

LIPSET: Nein. Im SDS gibt es beispielsweise zwei Gruppen: die Fortschritlliche Arbeiterpartei (Progressive Labor Party, PLP) und die Gemäßigten. Die PLP ist nichts anderes als die prorotchinesische KP der Vereinigten Staaten. Innerhalb des SDS dürften rund 40 Prozent der Mit- gleider der PLP angehören.

FRAGE: Wie konnte es geschehen, daß die verhältnismäßig passive Studentengeneration der Nachkriegs- jahre durch eine aktivistische Minderheit verdrängt wurde?

LIPSET: In der Politik der vierziger und fünfziger Jahre ging es vor allem um die internationale Bekämpfung des totalitären Expansionismus, wie ihn zuerst die Achsenmächte und dann der Kommunismus stalinistischer Prägung repräsentierten.

In den sechziger Jahren änderte sich jedoch vielerlei. Die Bürgerrechtsbewegung dieser Jahre trug viel zur Radikalisierung junger Liberaler bei, denn in den Südstaaten weigerten sich Befürworter der Rassentrennungen, die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes und die Bürgerrechtsgesetzgebung des Kongresses zur Kenntnis zu nehmen und zeigten damit, daß die friedlichen Spielregeln der Demokratie nicht immer funktionieren. Die zunächst im Süden angewandte Taktik der auf bürgerlichen Ungehorsam schwörenden Anhänger der „Konfrontation” wurde von der radikalen amerikanischen Studentenbewegung auf andere Streitfragen innerhalb und außerhalb der Universität übertragen.

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